Joanna Rakoff: Lieber Mr. Salinger

Sie ist jung, unterbezahlt und vernarrt in Bücher. Joanna Rakoff arbeitet 1996 als Assistentin für eine New Yorker Literaturagentur. Dabei will sie selbst Schriftstellerin werden und erhofft sich auf diese Weise den Einstieg in die Branche. Doch statt Manuskripte zu lesen, muss sie stupide Tipparbeiten für ihre exzentrische Chefin erledigen, die sich beharrlich weigert, zum Jahrtausendwechsel in „Modeerscheinungen“ wie Computer und Internet zu investieren. Das Besondere: Ihre Agentur vertritt den ebenso exzentrischen J. D. Salinger, der mit seinem „Fänger im Roggen“ Literaturgeschichte geschrieben hat. Während seine Prosa Joanna dabei hilft, den eigenen Platz im Leben zu finden, geht um sie herum eine Ära zu Ende.

Joanna Rakoff hat einen autobiografischen Roman über ihr „Salinger-Jahr“ geschrieben. Täglich versucht sie, die Aufmerksamkeit ihrer kapriziösen, Kette rauchenden Chefin zu erwerben, wird jedoch wie ein Möbelstück behandelt. Und während sie sich, umgeben von hoffnungsvollen Kreativen, fast jede Nacht auf Partys herumtreibt, reicht das Gehalt kaum aus, um sich in der Mittagspause etwas zu essen zu kaufen. Zur Not muss ein Apfel plus Kaffee als Tagesration herhalten.

Das Buch besticht zum einen durch seinen Retro-Charme, zum anderen durch die Einblicke in die Werke bedeutender amerikanischer Schriftsteller wie Salinger. Während in den USA „Der Fänger im Roggen“ zur Pflichtlektüre an Schulen zählt, sind viele seiner Werke hier nahezu unbekannt. Die Wende zur Digitalisierung wird in manch köstlicher Szene heraufbeschwört, zum Beispiel, wenn sich Joanna Rakoffs Chefin den Kopf über die Bedeutung „elektronischer Rechte“ und eines „papierlosen Büros“ zerbricht.

Rakoffs Liebe zur Literatur ist dem Buch deutlich anzumerken. Auch schafft es die Autorin Parallelen im Leben der berühmten Protagonisten rund um Holden Caulfield und Co auf ihr eigenes Leben zu übertragen. Im Grunde genommen entwickelt sich Rakoff nur über die Lektüre ihrer Bücher weiter, durch Spiegelungen der Handlung, da sie in der realen Welt Herausforderungen gerne umgeht.

Einziger Kritikpunkt: Die Charakterentwicklung der Protagonistin geht nur sehr langsam voran. So wundert es sehr, dass Joanna erst acht Monate nach Antritt ihres Jobs zum ersten Mal ein Buch von Salinger liest, obwohl er der wichtigste Kunde der Agentur ist. Zudem verkörpert Joanna einen Frauentyp, der eher in die 40er Jahre, als in die 90er Jahre von New York passt, die geprägt sind von selbstbewussten Charakteren à la „Sex and the City“. Joanna ist sehr nah am Wasser gebaut, geht Konflikten aus dem Weg und vermag Probleme nicht zu artikulieren. Sie wagt es nicht, ihren Freund auf seinen Seitensprung anzusprechen oder den Eltern ihre Geldprobleme zu gestehen. Joanna Rakoff scheint tatsächlich eine sensible Spätzünderin gewesen zu sein. Die dann aber ordentlich aufgeholt hat: Sie wurde Kritikerin bei Zeitungen wie der New York Times und ihr erster Roman mit zahlreichen Preisen überhäuft.

Fazit: Ein Buch für Literaturliebhaber. Rakoff schildert, wie Bücher wirken und was sie im Leben eines Einzelnen bewirken können – wie die Fanpost von Salinger beweist. Nicht zuletzt ein Anreiz, sich einmal mehr mit den Autoren aus Übersee zu befassen.

Joanna Rakoff: Lieber Mr. Salinger.
rororo, Januar 2017.
400 Seiten, Taschenbuch, 9,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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