Jennifer Egan: Candy Haus

Ein vibrierendes Zukunftsrauschen – außergewöhnlich & tiefgreifend.

Roxy spürt eine Vibration in ihrem tiefsten Inneren, während sich ihr Bewusstsein in das Internet ergießt: ein Sturzbach von Erinnerungen und Augenblicken, manche schmerzhaft – teils auch Erinnerungen an echten Schmerz –, in einen Kosmos strudelnd, der sich windet und schlängelt wie eine unaufhörlich sich ausdehnende Galaxie.“ (S. 206)

„Candy Haus“ ist visionär und spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der der technologische Fortschritt die Bedeutsamkeit des Individuums, der Privatsphäre und der Beziehungen gewaltig ins Wanken bringt.

„In einem vor Energie funkelnden Roman erzählt Egan von unserer Suche nach Authentizität und Einmaligkeit.“

Worum geht’s? Der Social-Media-Mogul „Bix“ hat ein Produkt namens „Besitze dein Unbewusstes“ entwickelt, das es dir ermöglicht, deinen Geist zu externalisieren und deine Vergangenheit zu besuchen, wann immer du willst. Das dort eingebundene „kollektive Bewusstsein“ ermöglicht es allen Personen Zugriff auf anonyme Gedanken und Erinnerungen aller lebenden und toten Menschen auf der Welt zu bekommen, die dasselbe getan haben: sein externalisiertes Gedächtnis in ein Online-‚Kollektiv‘ hochgeladen.

Was war das? Bis zur Mitte des Buches habe ich so viele besondere Textstellen markiert. Es hat mich wirklich mitgerissen. Ich war fasziniert vom Schreibstil, doch ab Seite 207 von 415 wurde es abstrus. Es lag nicht nur daran, dass weiterhin jedes einzelne Kapitel in einem komplett anderen Schreibstil, über einen weiteren Protagonisten und in einer anderen Zeit geschrieben wurde. Die Storyline springt in der Zeit herum wie ein Ping Pong, rast zwischen verschiedenen Generationen umher und das hat mich ganz schön verwirrt.

Die schiere Anzahl der auftretenden Charaktere und die vielen Perspektivsprünge machten es mir beinah unmöglich, tiefer in die jeweilige Person und in das Buch abzutauchen.

Am liebsten hätte ich während des Lesens Halt auf einer Charakterkarte gesucht, um das kaleidoskopartige Protagonisten-Potpourri (von Geschwistern, Cousins, Tennispartnern und Drogendealern) vollumfänglich zu erfassen.

Neben der Idee an sich, fand ich insbesondere die Beschreibungen äußerst bemerkenswert: „Die Sonne stand tief, das Licht war rosig, die karge Flora schimmerte in einem matten Silberton. Die Leere der Wüste kam mir biblisch vor, als hätte sich hier nie etwas getan – als stünde die ganze Geschichte noch bevor.“ (S. 87)

Auch wenn mich einige Teile des Buches verwirrt und ermüdet haben, ist „Candy Haus“ ein einzigartiges, komplexes Werk, das mich zum Reflektieren angeregt hat: Wann haben wir das letzte Mal einen ganzen Tag ohne unsere Smartphones verbracht? Sind wir noch immer aufgeregt auf Abenteuer im wahren Leben oder sind wir nur auf der Suche nach dem nächsten Dopaminkick im Internet?

Insgesamt hat mich „Candy Haus“ vor allem dadurch überzeugt, dass es wirklich mal etwas ganz anderes war. Ein vibrierendes Zukunftsrauschen, außergewöhnlich und tiefgreifend – ein Buch, bei dem die sprachliche Intensität zelebriert und der brisante Inhalt diskutiert werden sollte.

»Das Internet beunruhigt mich.«
»Du meinst die allwissende, alles sehende Wesenheit, die, obwohl wir uns einbilden, selbst zu entscheiden, unser Handeln vorhersagt und kontrolliert?«“ (S. 27)

Jennifer Egan: Candy Haus.
Aus dem Englischen übersetzt von Henning Ahrens.
S. Fischer, September 2022.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Olivia Grove.

Teilen Sie den Beitrag mit Ihren Freunden und Kontakten:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.