Die Nächte in denen er schlaflos wach liegt, werden für Anton zum Wechselspiel der Erinnerungen. Der vergangene Überfall auf ihn und seine Frau Franziska in ihrem gemeinsamen Landhaus an der Küste Westenglands und die schrecklichen Geschehnisse während des Nationalsozialismus, als er noch der kleine Toni war, lassen seine Gedanken nicht mehr los.
Im Einschlafen werden all die Bilder in Antons Kopf wieder lebendig. Dann schämt er sich über seine Hilflosigkeit, dass er seiner Frau nicht beistehen und sie beschützen konnte, als einer der Einbrecher ihn festgehalten hatte. Franziska hatte den drei Maskierten den Tresor geöffnet. Die Aktienbündel und das Bargeld, das sie mitgenommen haben, kann er verschmerzen. Aber sein Haus mit allen Möbeln und Gegenständen, alles bislang Vertraute, ist ihm nach dem Einbruch fremd geworden. Hinzu kommt das Gefühl einer großen Ohnmacht durch die erlittene Bloßstellung. Er weiß, dass diese Kränkung der stärkste, vielleicht markanteste Einschnitt und Eindruck seines Alters bleiben wird.
Immer wieder kommen Anton nachts Orte der Kindheit in den Sinn: Die geliebte Uhrenwerkstatt des Großvaters, der Esstisch der elterlichen Wohnung, sein Zimmer mit den geöffneten Fenstern zum Innenhof, die Eltern, die nicht miteinander sprachen, der Vater, der das Regime verachtete, die Nachbarin mit ihrem toten Hund Leo, das Mädchen Greta, mit der er nicht zusammen sein sollte, der linientreue Nachbar Meier… All diese Erinnerungen vermischen sich mit der Gegenwart, dass er das Gefühl hat, gleichzeitig zwischen zwei Zeiten zu leben – Als Anton und als kleiner Toni.
Obwohl Franziska den Überfall weitaus besser verkraftet hat als er selbst, taucht immer wieder ihr sorgenvoller Blick den sie ihm zuwirft, als einer der Entführer sie aus dem Zimmer führt, vor ihm auf. Dieses Bild lässt in ihm wieder den Tag aufleben, als man seinen Vater, den Hitlerhasser abgeführt hatte und er hilflos zusammen mit der Mutter und dem Wissen schuldig geworden zu sein, zurückgeblieben war.
Jetzt holt Anton nach, was der kleine Toni damals nicht tun konnte: Er verlässt des nachts das Haus und macht sich auf die Suche nach den Einbrechern, die er noch irgendwo am Küstenstreifen in der Nähe vermutet und er trifft auf drei Personen, die in einem Zelt übernachten. Die Situation dort lässt ihn über sich hinauswachsen.
Letztlich kommt doch eine Form von Erlösung für Anton, denn trotz aller längst verdrängten Geschehnisse, längst verdrängter Gefühle, ist es ihm möglich, dass er nochmals nach so vielen Jahren trauern kann.
Ein eigenwilliger, eindringlicher Roman über Vergangenheitsbewältigung und den Umgang mit Schuld und Sühne
Yorck Kronenberg: Tage der Nacht.
dtv, August 2015.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.