Victoria Belim: Rote Sirenen: Geschichte meiner ukrainischen Familie

Victoria kann sich noch gut an ein Gespräch mit ihrem Vater erinnern, während sie sich bei den Hausaufgaben über die lästige Zweisprachigkeit beschwerte. Damals erklärte er ihr den Unterschied zwischen der Mutter- und der Landessprache. Für das Recht, ukrainisch sprechen zu dürfen, seien Menschen gestorben. Auch der erwachsenen Victoria fällt die russische Sprache leichter. Ihr Gefühl für die Ukraine, ihre Heimat, rutschte an den Rand ihrer Erinnerungen: Im Alter von 14 Jahren zog sie in die USA, ging dort zur Schule und studierte. Später zog sie mit ihrem Mann nach Brüssel.

2014 nahm sich Russland mit Gewalt die Krim. In der gleichen Zeit verspürte Victoria das Verlangen, ihre Großmutter Valentina zu besuchen. Mit der späten „Heimkehr“ kamen die alten Erinnerungen zurück. Noch immer sprach sie Valentina auf Russisch an, während diese auf Ukrainisch antwortete. Den Fragen ihrer Enkelin wich Valentina aus und redete stattdessen über ihren Obstgarten oder Gemüseanbau. Das Unaussprechliche blieb trotzdem ein Thema.

Die Autorin Victoria Belim widmet ihr erstes Buch der 2021 verstorbenen Valentina, das in diesem Jahr zeitgleich in 15 Ländern erscheinen ist. Darüber hinaus wählte sie deren Nachnamen als Künstlernamen.

Unvorstellbares Unrecht

Das Zitat von Stalin, ein einzelner Tote sei eine Tragödie, eine Million Tote seien nur eine Statistik, zeigt in sehr anschaulicher Weise, wie Massenmord, Terror und systematische Missachtung der Menschenrechte betrachtet wurde. Victorias Recherche wird über viele Rückblenden ergänzt, die kunstvoll in ihre täglichen Bemühungen eingebettet sind. Sie beschreibt, wie unvorstellbares Unrecht und Not über drei Generationen hinweg ihre Familie drangsalierte. Alles hat Spuren hinterlassen. Ein Buch über die Identitätssuche der Autorin bekommt nicht nur aus aktuellem Anlass eine tiefer gehende Bedeutung, während die Ukraine ihre Unabhängigkeit erneut zu verlieren droht.

Wie viel Macht und Einfluss darf ein Land auf ein anderes haben? Und wie kann man Machtmissbrauch unterbinden, wenn die tatsächliche Auswirkung auch durch Lügen in der Berichterstattung verschleiert wird?

Die Autorin begegnet diesem mit Erinnerungen und geschichtlichen Ereignissen. „… In meiner Familie wurden gewisse Themen totgeschwiegen. Wir taten so, als ob der Schmerz verschwinden würde, wenn wir nicht darüber redeten.“ (S. 289)

Mit ihrem Buch öffnet sie Türen. Sie beschreibt, ohne anzuklagen, wie es sein sollte. Die Macht der Sprache ist in einem Informationskrieg scharf und zerstörend, insbesondere dann, wenn das Wort Opfer zu einem Schimpfwort mutiert ist.

Victoria Belim: Rote Sirenen: Geschichte meiner ukrainischen Familie.
Aus dem Englischen übersetzt von Ekaterina Pavlova.
aufbau Verlag, Januar 2023.
350 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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