Willkommen im Elisabethanischen London. Hier, inmitten des Empires, lebt es sich, für Damen vom Rang, normalerweise recht gut. Man residiert in einem der angesehenen Viertel der Stadt, die täglichen Aufgaben werden von Bediensteten übernommen, die Dame von Welt ergeht sich in Tee-Kränzchen, Bällen und vielleicht flaniert man einmal auch durch einen der für die Oberschicht reservierten Parks. Doch wehe, wenn das Geld ausgeht, man die soziale Leiter herunterpurzelt.
Dies ist die Geschichte von Mary Jekyll, der eben dies widerfährt. Nach dem Tod ihres Vaters, eines Gelehrten, leben sie und ihre Mutter von der Alimente ihres Großvaters – das Vermögen des Verblichenen ist verschwunden. Als ihre Mutter dahinsiecht und schließlich stirbt, versiegt auch diese, magere Einnahmequelle. Mary entlässt die Angestellten, findet ein geheimes Sparbuch von dem eine ihr Unbekannte in einem Kloster unterhalten wird. Bei ihren Nachforschungen, wer dies ist, begegnet sie Sherlock Holmes und Dr. Watson, die gerade die Morde an leichten Mädchen untersuchen. Schnell wird deutlich, dass beide Ermittlungen zusammenhängen, kommen die Opfer doch allesamt aus dem Kloster, in dem auch Mr Hydes ungestüme Tochter, Diana vom Geld Jekylls zehrt. Dass diese Mary als ihre Schwester bezeichnet ist abwegig – oder?
Die Hinweise verdichten sich, dass Jekyll in einer geheimen Alchemisten-Verbindung undenkbare Forschungen betrieb – am eigenen Leib, wie Mary nun zähneknirschend wahrhaben muss. Mehr noch, die Gesellschaft scheint bis in die heutige Zeit zu existieren und ihre finsteren Forschungen an geheimen Orten nachzugehen. Im Zuge der weitere Nachforschungen stoßen Jekyll und Holmes auf weitere, veränderte Töchter anderer Wissenschaftler – und auf eine Spur zu ihrem verblichenen Vater – oder was es doch eher Dianas Dad?
Die Namen der auftretenden Damen sagen jedem Kenner phantastischer Romane etwas – Doyles „Sherlock Holmes“, Mary Shelleys „Frankenstein“, Nathaniel Hawthornes „Rappacinis Tochter“, H. G. Wells‘ „Die Insel des Dr. Moreau“ oder Robert Louis Stephensons „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ sowie, diesmal noch eher am Rande ein gewisser van Helsing – da lässt die Autorin auftreten, was in der klassischen Abenteuer-Phantastik Rang und Namen hat. Dabei zehrt sie zwar von den literarischen Vorbildern, zeichnet die jungen Frauen aber ganz eigen, nutzt die Vorlagen nur als grobe Anhaltspunkte, um daraus dann ihre eigenen Figuren zu entwickeln. Damit immer noch nicht genug, greift die Verfasserin das Rätsel um Jack the Ripper auf und bietet ihre eigene Lösung zu den Verbrechen an.
Das Gebotene hat unbestritten hohen Unterhaltungswert. Der Roman liest sich unheimlich intensiv und spannend auf einen Rutsch durch. Grund hierfür sind neben den faszinierenden Figuren auch die realistisch wirkenden Beschreibungen der Zustände zur Zeit der Handlung. Hier begegnen uns junge Frauen, die sich mit ihrem vorgesehenen Platz in der Welt, also am Arm ihres alles bestimmenden Gatten, nicht vorstellen können und wollen. Sie alle verbindet ein gewisser, ständig deutlicher zu Tage tretender Wesenszug – Emanzipation ist das Wort.
Sie, denen so viel Leid von ihren Erzeugern aufgebürdet wurde, wollen selbst über ihr Schicksal bestimmen. Dafür aber müssen sie zunächst die Hintergründe über ihre Schöpfung herausfinden. Dass dies ihre Gegner auf den Plan ruft führt dazu, dass sie nicht nur Nehmerqualitäten beweisen müssen, sondern sich auch, höchst skandalös versteht sich, körperlich verteidigen müssen.
Das ist ein ungewöhnliches Bild, das uns Mrs Goss hier vom ausgehenden 19. Jahrhundert präsentiert. Aber auch ein höchst unterhaltsames Abenteuer mit viel Tempo, Geheimnissen und Anspielungen auf die Klassiker der Schauer-Romantik. So ist dieser Roman auch erst der Auftakt einer Trilogie, die Panini dankenswerterweise im Frühjahr 2022 mit dem Mittelband der Trilogie fortsetzen wird.
Theodora Goss: Die außergewöhnlichen Abenteuer des Athena-Clubs 01: Der seltsame Fall der Alchemistentochter.
Aus dem Englischen übersetzt von Kerstin Fricke.
Panini, Oktober 2021.
432 Seiten, Taschenbuch, 17,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Carsten Kuhr.