T. C. Boyles (Jahrgang 1948) neuer Roman „Sprich mit mir“ erscheint zuerst in Deutschland bevor die amerikanische Originalausgabe „Talk to me“ zu lesen sein wird. Am 25. Januar 2021 veröffentlichte der Carl Hanser Verlag das Buch des weltberühmten US-amerikanischen Schriftstellers in einer Übersetzung von Dirk van Gunsteren.
Mein Lesejahr 2021 beginnt (trotz Böllerverbot) mit einem Knaller: „Sprich mit mir“ von T. C. Boyle.
Darin erzählt Boyle die Geschichte von Guy Schermerhorn, Aimee Villard und Sam. Dr. Schermerhorn ist Privatdozent für Psychologie an einer kalifornischen Universität und forscht zum Spracherwerb von Schimpansen. Aimee Villard, eine junge und schüchterne, aber sehr hübsche Studentin, sieht Schermerhorn in der in den 1970er Jahren bekannten Fernsehshow „Sag die Wahrheit“. Mehr noch als Guy Schermerhorn beeindruckt Aimee jedoch der Auftritt des Schimpansen Sam, der in sich in der Show in Gebärdensprache mit Guy unterhält (beinahe wie Loriots sprechender Hund Bello). Aimee bewirbt sich als studentische Hilfskraft in Schermerhorns Projekt. Soweit so normal.
Doch dann beginnt das zweite Kapitel des Buches. Hier erzählt Boyle aus Sams Perspektive. Monate später aus einem Käfig heraus. Und ich träumte in der Nacht von einer Schlange, einer riesigen Anakonda, die ihre Gestalt verändern konnte, mal war sie Hund, dann Frosch. Was eine Erwähnung wert ist, da ich eigentlich nie von den Büchern träume, die ich lese. Was hatte das mit „Sprich mit mir“ zu tun? Ich war fasziniert von Boyles Idee, in die Gedankenwelt des Schimpansen einzutauchen. Was denkt er? Und tut er dies tatsächlich in der menschlichen Sprache? Im Text sind die Worte, die Sam kennt bzw. gelernt hat in Großbuchstaben gedruckt:
„Er hatte kein Wort für Worte, noch nicht jedenfalls, aber trotzdem kannte er Worte. Er kannte SCHLÜSSEL. Er kannte SCHLOSS. Er kannte RAUS.“ (S. 22)
Von nun an wechseln sich in dem Roman die Passagen ab. Als Lesende ahne ich die düstere Entwicklung, die Sams Geschichte nimmt. Denn Schermerhorns Projekt wird beendet, Sam landet in einem Käfig der Schimpansenaufzuchtstation von Dr. Donald Moncrief irgendwo in Iowa. Aimee ist entsetzt, hat sich doch eine sehr innige, tiefe Beziehung zu Sam entwickelt, und macht sich auf die Suche nach ihm. Schermerhorn, der sich vielleicht ein bisschen in Aimee verliebt hat, trauert seinen Forschungen und seiner Karriere nach. Und Sam? Sam denkt, er sei ein Mensch. Er ist traurig, verzweifelt und wütend. Er kennt keine Käfighaltung und keine Artgenossen. Als Aimee ihn findet, glaubt er, dass alles wieder wie früher wird. Doch so einfach läßt Donald Moncrief ihn nicht mehr los. Aimee beschließt, Sam zu befreien und zu retten, aber Sam ist ein wildes Tier.
Was für eine Geschichte? Wie so oft in Boyles Romanen basiert sie auf realen Hintergründen. Es gab und gibt wissenschaftliche Primaten-Forschungsprojekte und biomedizinische Versuche. T.C. Boyle widmet sich in „Sprich mit mir“ den Themen Sprache, Lernen und dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Was ist menschlich, was ist tierisch? Und wie unmenschlich sind Menschen und wie menschlich sind (wilde) Tiere? Das macht er so spannend, dass ich als Lesende das Buch nicht aus der Hand lege, bis ich es ausgelesen habe. Und auch noch davon träume.
Boyle trifft eine inzwischen existentielle, menschliche Stelle: die Vernichtung des natürlichen Lebensraumes von Tieren durch die Menschen, die Übertragung von Krankheiten vom Tier auf den Menschen und das menschengemachte tierische Artensterben.
In „Sprich mit mir“ wächst der Schimpanse Sam in menschlicher Umgebung auf. Er lernt Gebärdensprache, er kommuniziert mit seinen Betreuern, er knüpft Beziehungen, er trinkt Gin Tonic und liebt Pizza, aber er bleibt ein Tier, unbeherrschbar und unkontrollierbar mit seinen Instinkten und Aktionen:
„In der Sekunde, die sie brauchte, um die Situation zu erfassen, stieß Sam einen Schrei aus und stürzte sich auf den Mann, und obwohl sie den Arm um seine Kehle legte und versuchte, ihn zurückzureißen, war das Unglück bereits geschehen: Er traf den Mann wie eine infrarotgesteuerte Lenkwaffe, worauf dieser seinen Krug fallen ließ und mit den Armen rudernd rückwärts die Treppe hinunterfiel.“ (S.311/312)
Im Namen der Wissenschaften entreißen die Menschen das Schimpansenbaby Sam seiner Mutter, halten ihn im Haus und Käfig gefangen, isolieren ihn von seinen Artgenossen und als die Forschungsgelder ausbleiben, lassen sie ihn fallen. Dafür kann Sam nun Gebärdensprache.
Boyles Figuren sind wunderbar. Der smarte, karrieregeile Guy Schermerhorn, die einsame, schöne Aimee und der große, machohafte Donald Moncrief. Aber der Schimpanse Sam ist die den Lesenden überraschende und überragende Hauptperson dieses Buches, auch wenn (oder gerade weil) er ein Tier ist. Mit ihm entlarvt Boyle die menschlichen Charaktere seiner Geschichte. Bis am Ende alle als Verlierer dastehen.
„Sprich mit mir“ von T.C. Boyle ist ein Leseknüller mit Wucht und Nachhall und damit ein grandioser Start ins literarische Jahr 2021.
T.C. Boyle: Sprich mit mir.
Hanser, Januar 2021.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.
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