Weil Sylvain Tesson betrunken glaubt, den Clown geben zu müssen, fällt er acht Meter von einem Dach. Die Folge sind schwere Knochenbrüche, darunter die Zertrümmerung des Schädels und der Wirbelsäule. Sein Leben als Geograf, Schriftsteller, Filmemacher und Reisender, häufig begleitet von viel Alkohol, scheint schlagartig ein Wende genommen zu haben. Er verbringt Wochen in Krankenhäusern, ständig überwacht. Im Gesicht behält er eine Lähmung, seine Wirbelsäule gleicht einem Schraubenlager. Als er einigermaßen wiederhergestellt in eine Reha-Klinik soll, sperrt er sich dagegen.
Tesson will weit weg und beschließt, Frankreich von Südosten an der italienischen Grenze bis an den Atlantik im Westen zu Fuß zu durchqueren. Er besorgt sich eine Karte „hyperländlicher Gebiete“, rückständig, fernab von der modernen Welt und wandert auf alten Saumpfaden, Wildwechseln, Kirchsteigen, bäuerlichen Zufahrten. Versunkenen Wegen eben. Kurze Strecken begleiten ihn hin und wieder Freunde und Gefährten, das meiste bewältigt er ganz allein.
Ohne etwas zu beschönigen oder sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen, zeigt er drastisch auf, was Flächenzusammenlegungen mit der Artenvielfalt gemacht haben und wie die Agrarindustrie die jahrhundertealte Bauernkultur zerstört hat. Viele seiner Bilder sind dabei sensibel und poetisch: „Modernisiert sich ein Landstrich im Gebirge, rieseln die Menschen hinab wie aus dem Überlauf eines Wasserbeckens“. (S.49) „Den versunkenen Pfaden zu folgen bedeutete hier, die Inseln des alten gallischen Urwaldes, von dem noch glückliche Riffe vorhanden waren, miteinander zu verbinden. Unter den hohen Gewölben schneite es gelbe Tränen.“ (S. 145)
Er beklagt das Leben der eingesperrten Tiere in der Massentierhaltung, wettert gegen die Idiotie alles gleichmachen zu wollen und spricht sich entschieden gegen digitale Überwachung aus. Er ist schon ein bisschen drastisch in seinen Ansichten, der gute Tesson, dann aber wieder wandert man verzückt mit ihm über Hochebenen oder entlang von Wasserläufen, die ihre Ufer mit zärtlichem Wohlwollen streifen. (S. 151).
Alleine schon wegen der Sprache und der wunderschönen Bilder lohnt es sich, dieses Buch zu lesen. Und Tesson hat ja recht. Die Industrienationen brauchen endlich ein Umdenken und ein diametral anderes Handeln im Umgang mit Wasser, Boden, Wald, Natur.
Sylvain Tesson: Auf versunkenen Wegen.
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Penguin, September 2023.
189 Seiten, Paperback, 14,40€.
Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.