Simon Parkin: Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen

Peter Fleischmann verlor, so wurde es ihm erzählt, durch einen Autounfall seine ganze Familie. Er lernte deshalb schon sehr früh, dass nicht jeder Mensch die gleichen Lebensbedingungen und Chancen erfährt. Innerhalb der Woche wohnte er in einem Berliner Waisenhaus, und am Wochenende nahmen ihn häufig vermögende Freunde der Familie unter ihre Fittiche. Peter lernte ebenfalls, dass Juden in einem von Hitler geführten Land unerwünscht sind. Auf dem Weg zur Schule erfuhr er körperliche Angriffe, kurz danach durfte er nicht mehr zum Unterricht. Die Morde, Plünderungen und Brände in der Reichspogromnacht gingen auch an dem Waisenhaus nicht spurlos vorbei. Peter lernte Todesängste kennen.

Über politisch engagierte Menschen wurden 1938 etwa 600 Kinder über die Niederlande nach England gebracht. Zu ihnen gehörte auch der inzwischen fast siebzehnjährige Peter. In England lernte er, wie wichtig finanzielle Unabhängigkeit ist. Und wieder hatte er Glück im Unglück. Der Zufall wollte, dass er aufgrund seines Zeichentalentes eine bezahlte Arbeit erhielt, mit der sich seine Lebensbedingungen drastisch verbesserten. Doch leider nur für kurze Zeit. Als Deutschland England den Krieg erklärte, veränderte sich in England schlagartig die politische Stimmung.

Peter wurde verhaftet und interniert. Jedem Flüchtling im Alter von 16 bis 60 Jahren aus Deutschland und Österreich wurde unterstellt, ein Landesverräter und Spion zu sein. Entsprechend unmenschlich gestalteten sich die provisorischen ‚Gefängnisse‘. Und wieder erfuhr Peter wie alle anderen auch Plünderung, Hunger, Kälte und extrem beengte Haftbedingungen, die der Anfang einer langen Kette von Schrecken bis hin zu Todesängsten wurde.

Schließlich hatte Peter Fleischmann wieder Glück. Er wurde 1940 auf die Insel Isle of Man gebracht. Schon im Ersten Weltkrieg lebten dort Kriegsgefangene. Es lag also nahe, diese Tradition wiederzubeleben. Denn die englische Regierung wollte so schnell wie möglich die jüdischen Flüchtlinge loswerden.

Der leitende Offizier des Internierungslagers vertrat die Ansicht: „Um nicht durch Müßiggang und Langeweile demoralisiert zu werden, ist es äußerst wichtig, körperlich und geistig aktiv zu bleiben …“ (S. 141)

Aus diesem Ansatz heraus entwickelten die Häftlinge, die sich selbst verwalten durften, innerhalb kürzester Zeit ein Bildungs- und Kulturprogramm, das sowohl für den einfachen Häftling als auch für die vielen Künstler, Intellektuellen, Professoren, Rechtsanwälte, Ärzte und andere namhafte Koryphäen hilfreich war, die eigene Not zeitweise zu vergessen. Peter Fleischmann wurde in der Hutchinson University interniert.

„Nun hatten sich Schicksal und Politik verbündet, um ihm eine Gemeinschaft von Mentoren zu bieten, die weit jenseits seiner Möglichkeiten und Hoffnung lag.“ (S. 203)

Dies vorab: Dem britischen Journalisten und Autoren Simon Parkin ist ein wunderbares Buch gelungen, für das er in diesem Jahr den Wingate Literary Prize gewonnen hat. Er schreibt für  The New Yorker, The Guardian und The Observer. Er ist zugleich Mitglied der Royal Historical Society. In diesem Zusammenhang darf man bei dem Autoren ein großes Interesse für Geschichte vermuten, das sowohl für eine umfangreiche Recherche als auch dem  Erkennen von Kontexten steht.

In einem Wirrwarr von Falschinformationen und dem Weglassen wahrer Details lassen sich bekanntlich unterschiedliche Wahrheiten in Szene setzen. Auch in der Verallgemeinerung der Judenverfolgung und ihrer Vernichtung wird man den Zusammenhängen nicht gerecht. Aus diesem Grund konzentriert sich Simon Parkin auf die Berichte von Zeitzeugen, um deren Schicksal mit der Darstellung von politischen Hintergründen in einen neuen Kontext zu setzen. Und damit gelingt es ihm, eine besondere Geschichte zu erzählen, die so einzigartig ist, dass man eines sofort versteht: Die Erinnerung an die außergewöhnlichen Gefangenen musste fixiert werden.

Sein Buch hat er dem Kunsthistoriker Klaus Hinrichsen gewidmet, der auf der Isle of Man inhaftiert und Mitbegründer der Hutchinson University war.

In drei Teilen beschreibt der Autor sehr anschaulich, was mit den außergewöhnlichen Gefangenen geschah und wie sie zum Spielball der Politik und der Geschichte wurden. Sehr zu empfehlen ist auch die Lektüre des Nachwortes.

Simon Parkin: Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen: Deutsche Künstler in Churchills Lagern
Aus dem Englischen übersetzt von Henning Dedekind und Elsbeth Ranke
Aufbau, August 2023
576 Seiten, Hardcover, 30,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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