Shichiro Fukazawa: Die Narayama-Lieder (1956)

Als Shichiro Fukazawas Mutter sehr krank war, wollte sie ein letztes Mal ihre Felder sehen und ob sie gut bearbeitet worden sind. Also trug der Autor seine Mutter auf dem Rücken dorthin, wohin ihr Finger zeigte. Irgendwann hatte sie alles begutachtet und war zufrieden. Sie konnte sterben.

In Shichiro Fukazawas berühmter Erzählung aus dem Jahr 1956 ist die fast siebzigjährige Orin noch rüstig und gesund. Sie angelt die meisten Fische, führt den Haushalt für ihren verwitweten Sohn und die Enkel. Zu ihrem Leidwesen kann sie keine der üblichen Zahnlücken vorweisen und muss deshalb häufig Spott hören. Orin, die vom Dorf auf der anderen Seite des Berges kam, um zu heiraten, lebt das Leben einer Außenseiterin.

Kurz vor ihrem letzten Geburtstag liegt noch eine Aufgabe vor ihr. Orin will ihren Haushalt organisieren, bevor sie in die Berge gehen kann.

1914 wurde Shichiro Fukazawa in einem Dorf, nördlich des Berges Fuji geboren. Er hätte in der Druckerei seiner Familie arbeiten und den Betrieb später übernehmen können. Stattdessen liebte er das Gitarrenspiel und ging seine eigenen Wege. Sein ganzes Leben lang blieb er ein unangepasster Mensch. Als Nicht-Intellektueller stand er am Rand der japanischen Literatenwelt. In seine Texte band er selbstkomponierte Lieder ein, um ihnen eine andere Betonung zu geben und einen neuen Erzählduktus einzuführen.

Seine Narayama-Lieder erinnern in Orins fiktiver Welt an Weisheiten und geben gleichzeitig Regeln und Lebenserfahrung wieder. In Anlehnung an die Traditionen verschiedener Naturvölker schuf Shichiro Fukazawa eine in sich geschlossene Dorfgemeinschaft: Wenn die Ernte gut ist, sichert sie das Überleben der Familie; doch wenn die Ernte dürftig ausfällt, dann bedeutet dies im Winter Hunger und Not. Jeder Familienzuwachs kann in so einer Situation lebensbedrohlich werden. Am Beispiel der sympathischen und tapferen Orin wird eine fiktive Gesellschaft gezeigt, die das Kommen und Gehen der Generationen rigide regelt. Der Umgang mit den Schwächsten beschreibt eine Dorfgemeinschaft, deren soziales Netz nicht jeden schützt.

Orin nimmt ihr Schicksal nicht nur an, sie freut sich auf ihre Begegnung mit Gott und dies am liebsten, wenn es zu schneien beginnt. Die tiefe Weisheit darin offenbart sich ihrem Sohn erst, nachdem er einige Verhaltensregeln gebrochen hat. Seine Erlebnisse auf Orins letztem Weg sind nicht nur für ihn eine Offenbarung. Auch für die Leserin, den Leser ist die wunderschön erzählte Geschichte eine Anregung, über den Umgang mit der älteren Generation nachzudenken. Ob man beteiligt oder betroffen ist, dieses Thema kommt auf jeden zu.

Aus dem Japanischen übersetzte Thomas Eggenberg. Die Nachworte stammen von ihm und Eduard Klopfenstein.

Shichiro Fukazawa: Die Narayama-Lieder (1956).
Aus dem Japanischen übersetzt von Thomas Eggenberg.
Unionsverlag, August 2021.
128 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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