Wenn Roman Rozina, Sloweniens bedeutendster Autor, seinem Opus den Titel Hundert Jahre Blindheit gibt und sein wichtigster Charakter von Geburt an blind ist, könnte man leicht in die falsche Richtung schauen. Gleichzeitig fragt man sich, welche Geschichte der blinde Zeitzeuge Matija Knap über seine Familie erzählen könnte. Aus Gesprächen dürfte er erfahren haben, dass sein Großvater quasi aus dem Nichts einen der größten Bauernhöfe der Gegend geschaffen hat. Sein stur eingehaltenes Leitmotiv, immer mehr Land zu erwerben, sorgte für eine Arbeitslast, die er alleine nicht mehr tragen konnte.
Die Industrialisierung erreichte die Familie Knap, als im Tal der Kohlebergbau nicht nur für zahlreiche Arbeitsplätze sorgte. Die unterirdischen Grabungen veränderten auch die Landschaften. Erdrutsche nahmen in den Stollen das Leben der Bergleute, und oberirdisch zerstörten sie den Hof der Familie Knap und ihre Ackerflächen. Matijas Vater war gezwungen, im Bergbau zu arbeiten. Er zog mit seiner Familie in eine Werkswohnung und hoffte, Teil des wirtschaftlichen Aufschwungs zu werden.
Matija Knap erlebt, wie seine Familienmitglieder mit dem „typischen Knap-Gen“, höhere Ziele verfolgen, ob es um bessere Arbeitsbedingungen, fairen Lohn, Frauenrechte oder die Karriere in der ortsansässigen Glasfabrik geht. Jeder von ihnen hält am eigenen Ziel fest. Kein Opfer ist zu groß.
Bei Massenarbeitslosigkeit, Hungersnöten und Kriegen können diese Ziele schnell für das nackte Überleben geopfert werden. Doch bei den Knaps ist dies nicht so. Sie stehen auf, und jeder geht für seine Ideale zielstrebig weiter.
Matija durfte nie zur Schule gehen. Als er im Mai 1900 in einem slowenischen Dorf geboren wurde, gab es für Menschen mit körperlichen Einschränkungen keine Bildungseinrichtung. Stattdessen lernte der Junge Matija von einem alten Vagabunden das Spiel auf der Ziehharmonika und aus dessen Erzählungen ein Verständnis für Zusammenhänge. Dieses half ihm, die große weite Welt und ihre Einflüsse auf seinen Lebensraum zu verstehen und zu begreifen.
Mit jeder neuen Knap-Generation fallen wiederkehrenden Muster auf. Ob im Sozialismus oder in der Demokratie das Verhalten der Politiker und Arbeitgeber bleibt das gleiche. Wenn es um Investitionen geht, wird nur der eigene Kapitalaufbau gefördert. Das immer gleiche Versprechen der Reichen und Mächtigen funktioniert bei den meisten: „Arbeite noch ein wenig mehr für weniger Geld, dann können wir über Verbesserungen reden.“
Die Knaps werden und bleiben Außenseiter.
Anschaulich beschreibt der Autor, wie die Blindheit für Zusammenhänge schädliche Systeme nährt. Und dabei spielt es keine Rolle, in welchem Land Menschen für irgendwelche Versprechungen ver- und vorgeführt werden. Der allgemein vorherrschende Glaube, alles könne besser werden, wenn sich jeder seinen letzten Blutstropfen auspressen lässt, hat mit dem Blick in die Vergangenheit den wenigsten geholfen.
Roman Rozina begann seine Karriere als Zeitungs- und Fernsehjournalist. Mit dem beruflich erworbenen Wissen für Zusammenhänge und Analysen wechselte er in den Bereich literarisches Schreiben. Für seine wunderbare Familiensaga erhielt der den wichtigsten slowenischen Literaturpreis. Sein umfangreiches Werk schenkt eine Zeitreise und Einblicke, die man nicht vergessen sollte.
Roman Rozina: Hundert Jahre Blindheit
Aus dem Slowenischen übersetzt von Alexandra Natalie Zaleznik unter Mitarbeit von Tamara Kerschbaumer und Peter Scherber
Klett-Cotta Verlag, September 2023
584 Seiten, gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 28,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.