72 Menschen fuhren auf der „Gezeitenkind“, als Joron Twiner noch deren Schiffsmann war, nur dass „fahren“ das falsche Wort ist, lag das Schiff doch heruntergekommen und kaum seefähig an der Küste im Wasser. Dass er seine Crew, allesamt Gesindel und Taugenichtse, nicht kannte, dass er nicht nur ab und zu, sondern immer betrunken war, ja, vor Schiff und Mannschaft floh, wenn es nur ging, machte ihn nicht unbedingt zum besten Schiffsfmann der schwarzen Schiffe der Toten. Theoretisch können sich der Verurteilte und die auf die Schiffe abgeschobene Besatzung durch herausragende Kämpfe und Heldentaten wieder in die Allgemeinheit zurückkämpfen – von den Toten also auferstehen – doch ist dies seit Generationen auf den Hundertinseln nicht mehr vorgekommen.
Alles, aber wirklich alles ändert sich, als Meas Gilbryn, die „Glückliche Meas“, an Bord kommt und das Kommando übernimmt. Sie befiehlt das Schiff gen Norden fliegen zu lassen, um dort eine geheime Mission auszuführen, die undenkbar scheint. Ihr wurde zugetragen, dass man einen Arakeesianer gesichtet hat, einen Lindwurm, aus dessen riesenhaften Knochen die Schiffe der einander bekriegenden Reiche gebaut sind.
Seit Generationen galten die riesigen Leviatane als ausgestorben, wurde der Baustoff immer rarer und damit wertvoller – jetzt könnte ein vermeintlich letzter Nachschub gesichert werden – wenn es Meas nicht nur gelingt, den Riesen zu töten, sondern auch aus den sich selbst lang aufgegebenen Frauen und Männern der Gezeitenkind eine Crew zu machen, die an sich und ihr gemeinsames Ziel glaubt. Keine einfache Aufgabe, wie man an Joron sieht. Dass ihnen Verrat droht, dass sie selbst einen Verrat planen, dass sie verfolgt, angegriffen und verleumdet werden, das haben sie erwartet. Dass ihr Windflüsterer, ein Wettermagier aus einem geknechteten, magiebegabten Volk weit fähiger ist, als seine Artgenossen und eine besondere Verbindung zu Joron aufbaut, steht auf der Habenseite. Dass die ganze Welt, sprich jedes Schiff der einander bekriegenden Reiche, und dazu noch die Piraten Jagd auf sie machen, steht im Soll. Zumal sie erkennen müssen, dass der Leviatan weit mehr als ein tumbes Tier zu sein scheint.
All dies kulminiert weit im eiskalten nördlichen Meer, wo es zum Aufeinandertreffen von Meas und ihrer sie verfolgenden missgünstigen Schwester kommt. Ein Seegefecht, das die angeschlagene Gezeitenkind nicht gewinnen, nicht überstehen kann. So macht euch bereit, zur Hexe zu fahren, denn es gilt ein letztes Mal alles zu geben, die Schreckensbogen gespannt und auf in den letzten Kampf, ihr Steingebundenen – es ist Zeit zu sterben …
RJ Barker ist dem deutschsprachigen Leser kein Unbekannter. Bei Heyne erschienen die ersten beiden Romane seiner im Original sehr wohlgefällig aufgenommenen Assassinnen-Trilogie, deren abschließender Teil, wegen mangelnden Verkaufserfolges in der Übersetzung leider nicht mehr publiziert wurde. Eigentlich ist solch ein Autor verbrannt, kein Konzernverlag wird, bevor nicht Gras über die Sache gewachsen ist, weitere Bücher von einem solchen Verfasser bei uns veröffentlichen.
Anders R. J Barker, der bei Panini eine neue verlegerische Heimat gefunden hat. Und dies zurecht, beweist vorliegender Auftakt seiner Gezeitenkind-Trilogie (im Original Bone-Ship Trilogy also treffend Knochenschiff-Trilogie genannt), dass Barker wahrlich faszinierend zu fabulieren weiß. Dass der Verfasser auf der Titelseite einen Blurb von niemand geringerer als Robin Hobb erhalten hat, weist den Weg. Wir erinnern uns an die gegenwärtig bei Blanvalet / Penhaligon neu aufgelegten Liveship-Traders-Romane in denen uns die Verfasserin aus Bingetown berichtet. Auch hier sind die Schiffe mit Drachen verbunden, leben auf eine seltsame, faszinierende Art. Bei Barker ist es ähnlich und doch so ganz anders. Ähnlich wie Hobb präsentiert uns der Autor eine Welt, die sich ähnlich und doch in Details eigenständig zu der uns bekannten Realität anbietet. Darin setzt er einige wenige Figuren, die er dann nach und nach fast geruhsam entwickelt.
Der Fischerssohn Joron, der für seine Rache die schwarze Binde nahm, ein Mann, der sich zu Tode saufern will – kein wirkliches Heldenfutter oder eine charismatische Figur, der der Leser (m/w/d) gerne ins Abenteuer folgt. Und doch erleben wir über ihn als Erzähler mit, wie die Loser, die sich selbst aufgegeben haben, von einer Frau mit Führungsqualitäten, die immer selbst vorangeht und durch Vorbild ihre Untergebenen prägt und anspornt aus ihrem Trott, ihrer Lethargie gerissen werden. Dazu gesellen sich mit den Gullaimes, den Windflüsterern, dem Knochenmeister der sich um Rumpf und Rippen der Schiffe kümmert, und dem Kursleger, die oder der das Wetter träumen kann weitere Figuren, die anders im Sinne von Interessant weil ungewöhnlich sind. Ihre ihnen innewohnenden Kräfte sind so ganz anders als die übliche Magie mit Zauberstab und Spruch. Oder die Entwicklung, die unser Erzähler Joron selbst nimmt. Nach uns nach gewinnt er über die Kenntnisse, die er sich aneignet, an Selbstvertrauen, lernt von seiner Schiffsfrau, merkt aber auch, dass die Verantwortung und der Respekt die ihm zufallen mit einer immer größeren Distanz zu seinen einstigen Kameraden einhergeht. Wir besuchen unwirtliche Eilande, auf denen die Bevölkerung vom Bernbann, von körperlichen Missgestaltungen gezeichnet ist, überstehen Windtürme und die Einsamkeit der Wellen. Und wir erkunden, durch die staunenden Augen unseres immer neugieriger werdenden Erzählers, die ihm so unbekannte Welt.
Gleichzeitig wird sehr unauffällig, fast schon unterschwellig, immer mehr von dem politischen System der Hundertinseln und der Machtverteilung der Bern, der herrschenden Klasse von Frauen, die unversehrte Kinder zur Welt bringen, berichtet. Was und warum die meisten Neugeborenen gezeichnet sind – die nächsten Bände werden vielleicht ebenso hier eine Erklärung für uns bereit halten wie für die Ressourcenarmut im Imperium, die Ausrottung der Leviatane und den Hass auf die Bewohner der Hageren Inseln.
So ist dies ein Auftakt, der zunächst gleichmäßig wie die Wellen eines ruhigen Meeres daherkommt, uns einfängt und mitnimmt, dann immer reißender und stürmischer fasziniert und in einem Orkan voller Dramatik endet. Ein Buch, das geprägt ist von der eigentlich gleichförmigen Bühne des weiten Meeres, das aber die Schönheit der Wellen ebenso einfängt, wie es die Geheimnisse dessen andeutet und uns mit ihren Figuren an die Seiten bannt.
RJ Barker: Gezeitenkind 01: Die Knochen-Schiffe.
Aus dem Englischen übersetzt von Kerstin Fricke.
Panini, März 2022.
608 Seiten, Taschenbuch, 17,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Carsten Kuhr.