Ein schlichter, schöner und in seiner Natürlichkeit ergreifender Roman. In Jackie Polzins „Brüten“ erzählt die Ich-Erzählerin von ihren Anstrengungen, ihre vier Hühner am Leben zu erhalten. Denn im US-Staat Minnesota schwanken die Temperaturen zwischen plus und minus 40 Grad Celsius. Sie lässt uns an ihren Beobachtungen teilnehmen und daran, wie die Tiere ganz unbewusst ihren Blickwinkel auf das Leben verändern. Dabei kommen wir der Ich-Erzählerin ganz nahe, da sich private Probleme in der gefiederten Welt häufig widerspiegeln. Durch die allgegenwärtige Fruchtbarkeit des ständigen Eierlegens wird die Ich-Erzählerin zum Beispiel mit ihrer eigenen, ungewollten Kinderlosigkeit konfrontiert. Begriffe wie Sauberkeit, Heimat und Lebensentwürfe werden unbewusst neu überdacht. Ganz nebenbei erhalten wir LeserInnen faszinierende Einblicke in das Wesen der Hühner. Denn obwohl die Wissenschaft zu keinem eindeutigen Schluss kommt, stellt sich die Erzählerin nach und nach folgende Fragen: Können sich Hühner erinnern? Vermissen sie die Eier, die ihnen weggenommen werden? Können sie trauern, zum Beispiel um tote Artgenossinnen? Ist die teils brutale Rang- und Hackordnung barbarisch oder überlebensnotwendig? So sind viele der kleinen Kapitel als Metapher auf das menschliche Leben übertragbar.
In schönen, bestechenden Anekdoten versteht es Jackie Polzin, den Charakter der Hühner herauszustellen. Da ist das Alpha-Tier Miss Hennepin, die laut krakeelende Darkness mit ihrem schwarzen Gefieder, die eifrig Eier legende Gloria und die Außenseiterin Gam Gam, das kleinste und schwächste Tier im Bunde. Ohne zu viel verraten zu wollen – Achtung Spoiler – mit den Überlebenschancen von Hühnern in Minnesota steht es nicht zum Besten. Waschbären, Habichte, harte Witterungsbedingungen: Das Leben ist zwischen Hühnerstall, Freilauf und Gemüsegarten kein Zuckerschlecken. Umso härter trifft es beim Lesen, wenn es ein Schützling nicht geschafft hat. Dennoch verliert Polzin in ihrem Plot nie den leisen, ironischen Unterton. Ihre Ich-Erzählerin erkennt schnell, wie entfremdet sie von der Natur ist. So erfährt sie im Bio-Laden, dass ihr selbst gemischtes Futter, übertragen auf menschliche Ernährung, zu 50 Prozent aus Kuchen besteht. Auch entdeckt sie Charaktereigenschaften an ihren Schützlingen, die sie nie für möglich gehalten hätte. Zum Beispiel wie das Alpha-Huhn gegen den Schlaf ankämpft. „Ihre Augen begannen sich zu schließen und sprangen dann mit einer so jähen Bewegung wieder auf, dass der Schwung den Kopf mitriss. Das Hochschnellen belebte sie, aber nicht für lange, und erneut begannen sich ihre Augen zu schließen, und so weiter, immer wieder. Das arme Huhn. Wenn ich ihr doch nur Sicherheit versprechen könnte.“ (S. 87)
Köstlich sind die Anekdoten, wie das Umfeld auf die Hühner reagiert. Zu Show-Zwecken (die Hühner legen nicht jeden Tag ein Ei) werden zugekaufte Eier im Hühnerstall untergeschoben, damit staunende Gäste nicht enttäuscht werden. Rührend ist auch ein Nachbar, der sich erst wegen des morgendlichen Hühnergeschreis mokiert und sich später in der Nachbarschaftshilfe engagiert, um die Hühner vor der Vogelgrippe zu schützen. Kurz: Das Buch ist gespickt von kleinen, herzerwärmenden Anekdoten zwischen Huhn und Mensch. „Dieser Gedanke – die Hühner erinnern sich – und die daraus hervorgehende Überzeugung, dass meine Zeit mit den Hühnern bis zu einem gewissen Grad ihrer Zeit mit mir entsprach, sorgten dafür, dass ich tief und fest schlief.“ (S. 152)
Alle, die schon immer gedacht haben, dass Hühner völlig zu Unrecht im Schatten von Hunden, Katzen und anderen Haus- und Hoftieren stehen, werden diese Lektüre lieben. Wussten Sie etwa, dass man die Farbe der Eierschale an der Farbe der Ohren eines Huhns ablesen kann? Kurz: Ein schönes, ergreifendes Buch, dass eine Lanze – oder vielmehr Feder – für unsere gefiederten Mitgeschöpfe bricht. Lovely!
Jackie Polzin: Brüten.
Aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus Stingl.
dtv, März 2022.
208 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.