Rückwärts erzählte Romane sind eine Kunst. Peter Nichols beherrscht sie. Seine nostalgische Liebesgeschichte „Die Sommer mit Lulu“ ist nicht nur ein Lob- und Abgesang auf die Insel Mallorca, sondern auch auf den Zauber der Liebe.
Durch den literarischen Kunstgriff der diametralen Chronologie entfalten Fehlentscheidungen und Missverständnisse eine enorme emotionale Wucht. Der Leser weiß um den unausweichlichen Fortgang der Handlung, die Beweggründe erschließen sich jedoch erst im Laufe der Zeit.
Zur Story: Das einstige Ehepaar Lulu und Gerald, mit über 80 Jahren von gegenseitigem Hass und Unverständnis geblendet, gerät auf den Klippen vor Cala Marsopa in einen Streit, stürzt ab und ertrinkt. Wie ist es dazu gekommen?
Dies entfaltet der Roman in Szenen von 2005 bis 1948. Sie zeigen den Werdegang von Lulu, Inhaberin eines Strandhotels für Schöngeister. Sie porträtieren Gerald, welcher die realen Schauplätze von Homers Odyssee absegelt und dabei auf Mallorca strandet. Sie begleiten Aegine und Luc, ihre Kinder aus zweiten Ehen. Jener Graben, den ihre Eltern in der Vergangenheit geschlagen haben, trennt sie im Hier und Jetzt. Jahrelang umkreisen sie einander, dienen als Projektionsfläche jugendlicher Sehnsüchte, verlieren ihre Unschuld trotzdem an andere und landen in den Armen der Falschen.
Motive wie Täuschung, Vergewaltigung oder Vertrauensverlust wiederholen sich im Laufe des Romans auf unterschiedlichen Ebenen und zeugen von unbewussten Prägungen. Autor Peter Nichols, der als Skipper gearbeitet und bereits einige Bücher zum Thema Segeln verfasst hat, zeichnet das Meer als weiteren Protagonisten und lässt sein nautisches Wissen einfließen. Die Verflechtung der antiken Odyssee-Handlung mit der Gegenwart sowie eine in starken Bildern dargestellte Gesellschaftskritik runden das Buch ab. Jene Szenen, in der Olivenbäume gefällt werden, um touristischen Betonbunkern Platz zu schaffen, lesen sich wie ein Schlag in die Magengrube. Die Einheimischen stehen dem touristischen Fortschritt zwiespältig gegenber. Einerseits sind die Meere leergefischt, andererseits: „… vor Francos Tod waren in Spanien noch alle Frauen schwarz gekleidet und ritten auf Eseln durch die Gegend. Jetzt laufen sie alle oben ohne am Strand herum und fahren Seats und Renaults.“
Zum Schluss wird in der Generationen umfassenden Love Story jenes Ereignis enträtselt, das zum Bruch von Lulu und Gerald geführt hat. Somit ist der Anfang das Ende und umgekehrt. Aber eine Urlaubslektüre wäre keine Urlaublektüre ohne einen Hoffnungsschimmer hinterm Meereshorizont …
Witzige Fußnote: Aus heutiger Sicht scheint es unvorstellbar, dass die Lieblingsinsel der „Krautfresser“ im Jahr 1951 so unbekannt war, dass ein Hotelgast versehentlich in Monaco landete! „Die Sommer mit Lulu“ lädt dazu ein, Mallorca durch unbekannte Retrospektiven zu entdecken.
Peter Nichols: Die Sommer mit Lulu.
Klett-Cotta, Mai 2016.
507 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,95 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.