Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen

„… und falls ich etwas gesehen habe, erinnere ich mich nicht.“ (S. 28)

Dieser Spruch aus dem ideellen Familienerbe ist der rote Faden im Buch der Autorin und Philosophin Michela Marzano.

Durch Zufall findet sie die Taufurkunde ihres Vaters mit dessen vollständigem Vornamen: Ferruccio Michele Arturo Vittorio Benito. Neben seinem Rufnamen, den Namen von Vater und Großvater und dem des damaligen Königs trägt er auch den Namen von Benito Mussolini. Warum sollten die Großeltern ihren Sohn nach dem faschistischen Diktator benennen? Als sich dann auf Nachfrage im elterlichen Haus das Parteibuch des Großvaters findet, bricht für die Autorin eine Welt zusammen. Sie hatte in dem Glauben gelebt, dass alle Mitglieder der Familie dem Faschismus ablehnend gegenüberstanden und stehen. Gut, ihr Großvater hatte der monarchistischen Partei angehört, aber das war allenfalls ein bisschen peinlich. Nun stellt sie fest, dass er einer der Faschisten der ersten Stunde war und zugleich zu den Squadrista, dem berüchtigten Schlägertrupp Mussolinis, gehörte.

Michela Marzano beschließt, ein Buch über ihren Großvater zu schreiben und beginnt Nachforschungen anzustellen, recherchiert in Archiven und im Internet. Arturo Marzano war während der faschistischen Diktatur und auch etliche Jahre nach dem Krieg als Staatsanwalt tätig. Zwischen 1953 und 1958 war er als Abgeordneter der monarchistischen Partei im italienischen Parlament tätig. Anhand der daraus resultierenden Dokumente kann Michela Marzano den Werdegang ihres Großvaters nachvollziehen und gleichzeitig einen tiefen Einblick in die Geschichte ihres Landes gewähren. Dabei liegt ihr Fokus auf den Bestrebungen, das Vergangene zu verdrängen und zu vergessen, statt es aufzuarbeiten.

Darüber hinaus ist das Buch ein sehr persönliches Zeugnis. Die Suche nach der Wahrheit über ihren Großvater ist zugleich eine Suche nach den Wurzeln eigener Widersprüche. Sie schreibt sehr offen über ihre psychischen Probleme, deren Ursachen sie auch in der Familiengeschichte vermutet. Sie findet zudem in ihrer Biografie immer wieder Momente, in denen sie selbst verdrängt oder weggesehen hat und fragt sich, wie sie sich während der Ära Mussolini verhalten hätte. Vor allem aber führt die Beschäftigung mit den persönlichen Dokumenten des Großvaters, mit dienstlichen Akten und privaten Briefen und Aufzeichnungen zu einem neuen Verständnis für ihren Vater, der nach außen als linker Wirtschaftsprofessor galt, innerhalb der Familie dagegen als autoritärer Patriarch auftrat.

Ich sehe das Buch als Versuch, das Handeln Einzelner in den historischen Kontext zu setzen.  Michela Marzano zeigt, wie die Amnestie nach 1944 in eine kollektive Amnesie mündete, die inzwischen dazu geführt hat, dass nationalistische und rassistischen Denkweisen wieder mehr und mehr geduldet und auch geteilt werden. Ihr Credo: „Nur wenn sich Italien mit seiner Vergangenheit auseinandersetzt, kann dieses Land die Widersprüche […] überwinden.“ (S. 361) Das gilt im gleichen Maße für uns, was das Buch auch für deutsche Leser interessant macht.

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen
Aus dem Italienischen übersetzt vonLina Robertz
Eichborn Verlag, August 2023.
367 Seiten, Hardcover, 24.00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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