Marlene von Runstedt und Sophie Maytrott brechen in eine ungewisse Zukunft auf. Eine Weile haben sie sich nur auf ihre Arbeit konzentriert und die Vorzeichen auf eine rückwärtsgewandte Gesellschaftspolitik nicht wahrgenommen. Nachdem beide von ihren Eltern gefördert wurden, Jura studierten und als Abgeordnete für demokratische Werte und Frauenrechte kämpfen, stehen ihnen nach wie vor gesellschaftliche Konventionen im Weg. Gebildete Frauen sind nach dem Ersten Weltkrieg eine unerwünschte Randerscheinung. Beide erleben Rückständigkeit und die Folgen der Armut. Gleichzeitig beobachten sie, wie Nationalsozialisten prügelnd und pöbelnd immer mehr Unterstützung in der Bevölkerung erfahren.
Beide müssen folgenreiche Entscheidungen treffen.
In ihrem zweiten Band der Trilogie Die Frauen vom Reichstag zeigt Micaela A. Gabriel erneut, wie wichtig Politik und Frauenrechte im alltäglichen Leben sind. Sie beeinflussen das Leben von Marlene und Sophie bereits bei kleinsten Entscheidungen. Als Wegbereiter für Freiheit und demokratische Werte haben sie die Menschen im Blick, die sich nicht so gut wehren können. Am Beispiel der historisch belegten Schüler-Tragödie zeigt sich, wie leicht ein achtzehnjähriger Arbeitersohn durch unglückliche Umstände zum Tode verurteilt werden kann. Nur weil die Kanzlei von Runstedt und Sophie weder Kosten noch Mühen scheuen, um ein vorschnelles Urteil zu verhindern, darf der Angeklagte auf Gerechtigkeit hoffen. Doch was ist schon gerecht in einer Ungleichbehandlung. Männer haben mehr Freiheiten als Frauen und Reiche mehr Möglichkeiten als Arme, ein gesichertes Leben zu führen.
Nach umfangreichen Recherchen ist der Autorin eine kurzweilig erzählte Geschichte gelungen, die das politische Leben in Deutschland vor knapp 100 Jahren eindrucksvoll vorführt. In ihrem Nachwort schreibt Micaela A. Gabriel, dass sie überrascht war, wie stark die Münchner Gesellschaft die Nationalsozialisten direkt oder indirekt unterstützt habe. Der Wunsch, nach dem Ersten Weltkrieg alte Werte wieder aufleben zu lassen, war größer als die Unterstützung der neuen Demokratie.
Privilegien freiwillig abzugeben, gelingt möglicherweise auch heute noch nicht so vielen Menschen. Wenn alles bleibt, wie es ist, muss sich niemand umstellen. Doch irgendwann zwingen die Umstände zum Verlassen der gewohnten Pfade. Ein Aufbruch bedeutet Mut, den die beiden Abgeordnete sicherlich haben. Die ledige Marlene genießt ihre Freiheit und muss die Liebe in die zweite Reihe stellen. Und die verheiratete Sophie wird von ihrem wesentlich älteren Ehemann bevormundet. Sie will sich trotz diverser Verbote mehr für Notleidende einsetzen. Ehe und freie Entscheidungen scheinen sich bei beiden auszuschließen.
Wer den ersten Band nicht gelesen hat, wird ohne Probleme Vergnügen bei der Lektüre der Fortsetzung haben. Viel zu schnell findet man sich auf der letzten Seite wieder und möchte wissen, wie das Leben der beiden patenten Frauen weitergeht. Dass heute die Rechte der Frauen noch ausbaufähig sind, zeigt, mit wie viel Hindernissen die Pionierinnen zu kämpfen hatten.
Micaela A. Gabriel: Die Frauen vom Reichstag 02: Ruf nach Veränderung.
Rowohlt, August 2022.
432 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.