„Der Mann ist die Norm, die Frau ist die Frau.“ Zack – willkommen in einem Sachbuch der etwas anderen Art. Mit viel wissenschaftlichem Verve serviert uns die Autorin eine Knallertheorie nach dem anderen. Sie lässt die Biologie Klartext sprechen. Dies dürfte bei Lesern jeglichen Geschlechts zwar an der einigen Stelle für Schnappatmung sorgen – aber genauso für Schmunzeln. Wichtigste Erkenntnis: In der Evolution waren Männer und Frauen die längste Zeit auf Augenhöhe, das „schwache Geschlecht“ ist lediglich eine kulturelle Erfindung. Die Absurdität beginnt bereits beim Begriff „Ernährer“. Bei unseren nomadischen Vorfahren brachten Frauen als Sammlerinnen 80 Prozent der Nahrung in den Stamm ein! Da Medizin, Macht und Geschichte jedoch über die letzten Jahrhunderte in den Händen von Männern lag, ist der „objektive“ Blickwinkel in Wahrheit männlich. Keine Frage: Die Lösungsansätze der Biologin und Evolutionsökologin am Ende des Buches sind so radikal wie provozierend. Falls Ihnen während der Coronakrise der intelligente Gesprächsstoff ausgegangen sein sollte, hier finden Sie genügend Material für abendfüllende Diskussionen!
Ein paar kleine Kostproben: Verabschieden Sie sich vom Ideal der Ehe. Diese ist aus evolutionsbedingter Sicht Nonsens. Die Natur hat für uns eine „serielle Monogamie“ vorgesehen. Es gibt jedoch einen Haken: Die Ehe war nötig, damit die Zivilisation in ihrer heutigen Form überhaupt entstehen konnte. DNA-Analysen haben aufgezeigt, dass die Menschheit genetisch gesehen viel mehr weibliche, als männliche Vorfahren hat. Warum? Zu Jäger-und-Sammler-Zeiten pflanzten sich 80 Prozent der Frauen mit nur 20 Prozent der Männer fort! Zu Beginn der Sesshaftwerdung soll das Verhältnis gar bei 95:5 gelegen haben, schließlich waren bei „Alpha-Männern“ neben Stärke und Geschick nun auch noch Intelligenz und Kreativität gefragt. Da fällt der Großteil „hinten runter“.
Fazit der Autorin: Um den sozialen Frieden nicht zu gefährden, wurden Frauen nach dem statistischen 1:1 Prinzip aufgeteilt. Wie dies in perfiden, kleinen Schritten umgesetzt wurde – wie Frauen zuerst aus der Öffentlichkeit ins häusliche Leben verbannt und Ihnen nacheinander Rechte wie Besitz und Bildung genommen wurden – verdeutlicht die Autorin anhand vieler Beispiele. Letztendlich wurde die Frau nicht nur ihrer Rechte, sondern auch ihrer natürlichen Sexualität beraubt. Plötzlich lautete das vorherrschende Prinzip „Male Choice“ statt „Female Choice“. Und heute? Ob medizinische Diagnosen, die Höhe von Regalen, die Maßanfertigungen von Schutzkleidung, Gesetze oder Geldverteilung – die Autorin zeigt, wie unsere Welt dem Blickwinkel des Androzentrismus, des männlichen Auges, unterliegt. Der männliche Blickwinkel ist zum „normalen“ Blickwinkel geworden. Doch haben Männer sich selbst ein Hamsterrad aus Konkurrenz und Gier geschaffen, in dem viele auch nicht glücklich werden.
Bevor wir jedoch zu diesen Themen gelangen, gönnt uns die Autorin eine witzige Verschnaufpause mit aufsehenerregenden Anekdoten aus dem Tierreich. Fazit: Es gibt nichts, was es nicht gibt! Wie emanzipierte Anemonen-Fische, bei denen die stärksten Weibchen sich in Männchen verwandeln können, um das Ruder in die Hand zu nehmen.
In Stoverocks Buch geht es jedoch nicht nur um die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und aus dem Lot geratene Mann-Frau-Beziehungen. Sie setzt auch die großen Themen in den (sexuellen) Evolutionskontext wie Weltwirtschaftssysteme, Religion, Gendervarianten oder die Entstehung der gefährlichen Incel-Bewegung. Leser werden vieles erstmal sacken lassen müssen. Stoverock zündet ihre Bomben im Sekundentakt.
Das wirklich Großartige an Stoverocks Buch ist, dass die Autorin trotz manch radikaler Thesen stets versucht, alle Seiten im Blick zu behalten. Sie zeigt Verständnis für beide Geschlechter, beleuchtet Fluch und Segen der Antibabypille, wägt Alternativen und Grenzen von Systemen ab. Ein Zurück zur Female Choice kann es in seiner Ursprungsversion nicht mehr geben, dies käme einem Zusammenbruch der Gesellschaft gleich. Doch weisen verschiedene Statistiken darauf hin, dass dies in Ansätzen bereits passiert.
Gegenargumente hebelt die Biologin zum Teil mit aktuellen Zahlen aus. So entspricht der Zeitpunkt, an dem eine Frau statistisch gesehen die Scheidung einreicht, genau dem Zeitfenster von 3 bis 5 Jahren, welches die serielle Monogamie jahrtausendelang in der weiblichen DNA verankert hat. Ob Analysen auf Tinder, ob Erhebungen aus liberalen Ländern wie Skandinavien, in denen bereits 23 Prozent aller Männer kinderlos bleiben, während die Anzahl der „Mehrfamilien“-Väter wächst, sollen aufzeigen, dass sich die Frauenwelt mit zunehmender Emanzipation automatisch zum „Female Choice“ hinbewegt. Er wirbt, sie wählt. Mit all den daraus resultierenden Chancen und Problemen. Meike Stoverock bezeichnet diesen Wandel neben den Themen Migration und Klimawandel als die größte Herausforderung der nahen Zukunft.
Resümee: Aufrüttelnd, erhellend, amüsant, streitbar – ein Buch, das für hitzige Diskussionen sorgen wird. Zurecht! Wie könnte eine Welt jenseits des Androzentrismus aussehen? Dies mögen die LeserInnen selbst entscheiden.
Meike Stoverock: Female Choice: Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation.
Tropen, Februar 2021.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
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