Felix, in eigentlicher Bedeutung „der Glückliche“, hat nicht viel mit seinem Vornamen gemein. Der einst erfolgreiche Theaterregisseur wurde nach dem Tod von Frau und Tochter beruflich ausgebootet und um seinen Job gebracht. Nur der Sinn nach Rache hält ihm am Leben. Dafür lässt sich Felix etwas ganz Besonderes einfallen… Margaret Atwood hat einen faszinierenden „Story-in-Story“-Plot entworfen. Denn Felix‘ Rache orientiert sich an Shakespeares Theaterstück „Der Sturm“. Diesen will Felix tatsächlich inszenieren, aber nicht mit herkömmlichen Schauspielern, sondern mit den Insassen einer Strafanstalt. Diese irrwitzige Ausgangslage meistert Atwood mit viel Einfallsreichtum, einem atemberaubenden Aufbau und viel lakonischen Witz. Nicht nur für Shakespeare Liebhaber ist dieser Roman ein Muss!
Felix ist das erfolgreiche Enfant terrible des Makeshiweg-Festivals in Kanada und bekannt für seine Inszenierungen, die gerne Grenzen überschreiten. Ein Genie, das ganz in seinem Beruf aufgeht. Doch private Schicksalsschläge werfen ihn aus seiner Bahn. Zuerst stirbt seine Frau, zwei Jahre später seine Tochter Miranda an einer zu spät erkannten Meningitis. Felix wird von Schuldgefühlen zerfressen. Hätte sich ihr Tod vermeiden lassen, wenn er öfters zu Hause und aufmerksamer gewesen wäre? Um den Verlust zu überwinden, stürzt sich Felix in die bahnbrechende Neuinszenierung von Shakespeares „Der Sturm“, in dem er die gleichnamige Miranda stellverstretend für seine Tochter auferstehen lassen will. Doch dazu kommt es nicht mehr. Sein Assistent Tony, ein opportunistischer Emporkömmling, hat Felix instabile Gefühlslage längst zu seinen Gunsten genutzt. Er bewirkt Felix Entlassung und reißt sich dessen Job unter den Nagel. Gemeinsam mit einem alten Freund aus der Politik müssen sie diesen Coup schon lange geplant haben.
Nach Jahren des Rückzugs, scheint Felix dem Wahnsinn zu verfallen. Er lebt als Einsiedler in einer abgelegenen Hütte und spricht mit einer Projektion seiner verstorbenen Tochter Miranda, die er „mitwachsen“ und altern lässt. Oder gönnt sich Felix nur eine wohlverdiente Auszeit als Vorbereitung für einen Gegenschlag? Denn „Rache muss kalt getrunken werden“! Unter dem Pseudonym Mr. Duke nimmt er den Job in einer Strafanstalt an. Er soll dort Theaterkurse halten, um die Lese- und Rechtschreibkompetenzen der Sträflinge zu fördern und ihre Wiedereingliederung zu erleichtern. Durch seine unkonventionellen Methoden wird der Kurs zum Hit und erregt bald Aufsehen. Hoher Besuch seitens der Politik steht an – darunter altbekannte Gesichter, mit denen Felix noch eine Rechnung offen hat…
„Der Sturm“ in moderner Form mit den Insassen einer Gefängnisanstalt ist die wahnwitzigste Interpretation, die das Stück jemals erfahren habe dürfte. Hier zeigt sich Atwoods literarisches Können. Der Aufbau orientiert sich am Theaterstück, das natürlich von den Häftlingen entsprechend uminterpretiert, digitalisiert und „aufgepimpt“ wird. Dabei muss Felix einige Hürden meistern: Keiner der bösen Buben will „schwule“ Feen oder jungfräuliche Mädchen spielen. Wenn schon eine weibliche Hauptrolle, dann bitte eine Hexe oder rachsüchtige Königsgattin! Als eine weibliche Schauspielerin dafür engagiert wird, geraten nicht nur die Hormone der Insassen in Wallung. Doch was Felix und seine Truppe mit begrenzten Mitteln und Möglichkeiten auf die Beine stellen, ist schlichtweg großartig. Und verfehlt seine Wirkung am Ende nicht…
Margaret Atwood, die 2017 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, entführt ihre Leser auf eine atemberaubende literarische Inszenierung, die mühelos zwischen Lyrik und Rap, Theater und Literatur, Klassik und surrealistischen, digitalen Spielereien lustwandelt. Atwood ist ein Bravourstück gelungen, das sich nicht nur unterhaltsam liest, sondern auch mit dem nötigen Tiefgang aufwartet. Ihr Titelheld Felix schlüpft zwar in die Rolle des Prospero, steht aber stellvertretend für viele von Shakespeares Titelhelden, die von Rache, Wahnsinn, Eitelkeit, Schuld und Sühne angetrieben werden. Auch die Insassen der Haftanstalt wachsen durch die Inszenierung, entdecken neue Fähigkeiten, gewinnen eine Perspektive. Erhalten am Ende alle ihre Katharsis? Können Literatur und Theater den Menschen vergrößern, ihn über seine Schwächen erheben und zu etwas Besserem machen?
Fazit: Unbedingt lesenswert! Die Art wie die preisgekrönte Autorin zwischen Kunstgenres lustwandelt, wie intelligent sie ihre „Story-in-Story“ aufbaut, wie viel Humor sie in die Rachestory einbaut und nebenbei noch die Lust auf Shakespeare weckt – das alles ist den sofortigen Gang in die nächste Buchhandlung wert!
Margaret Artwood: Hexensaat.
Penguin Verlag, November 2018.
320 Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.
Hallo,
das Buch liegt hier schon ein Weilchen auf Englisch. Nicht nur, weil ich vorhabe, alle Bücher des „Hogarth Shakespeare“-Projekts zu lesen, sondern weil ich auch alle Bücher von Margaret Atwood lesen möchte! (Ein paar andere liegen hier auch noch.)
Beim Literarischen Quartett ist „Hexensaat“ ja nicht so gut weggekommen, aber das stimmt oft nicht mit meiner Meinung zu einem Buch überein, insofern schreckt mich das nicht ab. Ich finde die Idee, einen Teil der Handlung in ein modernes Gefängnis zu verlegen, schon sehr interessant.
LG,
Mikka
[ Mikka liest von A bis Z ]