Luca Di Fulvio: Als das Leben unsere Träume fand

Als ihr Vater stirbt, atmet Rosetta zunächst auf: Sie muss keine Schläge mehr von ihm befürchten. Der elterliche Hof geht auf sie über und sie plant, ihn selbst zu bewirtschaften. Doch der Baron Rivalta de Neroli will ihr Land und bald beginnen seine Leute, Rosetta zu drangsalieren. Auch die Bewohner des Dorfes wenden sich gegen Rosetta, aus Angst vor dem Baron und aus Unverständnis: Wie kommt eine junge Frau im Jahr 1912 in Sizilien dazu, so selbständig zu sein zu wollen? Das ist doch wider die Natur. Und so schauen alle weg oder machen sogar mit, als sich die Lage immer weiter zuspitzt und der Baron seine Männer darauf ansetzt, Rosettas Willen zu brechen. Fast gelingt das auch, doch sie ist stärker, als alle denken. Der Baron bekommt zwar ihr Land, aber er muss persönlich dafür bluten. Rosetta kann fliehen, aber ihr mächtiger Widersacher bleibt ihr auf den Fersen.

Nicht weit entfernt in Palermo legt sich Rocco mit dem Mafiaboss an, für den sein Vater die Drecksarbeit erledigt hat. Doch Rocco möchte nicht werden, wie sein Vater. Er will sein Geld auf ehrliche Art und Weise verdienen und träumt davon, Mechaniker zu werden. Am Ende bleibt ihm nur der Aufbruch in die „neue Welt“ nach Argentinien, um dem langen Arm von Don Mimì Zappacosta zu entkommen. Allerdings gibt es auch in Buenos Aires einen Zappacosta, mit dem er sich herumschlagen muss.

Die dreizehnjährige Jüdin Raechel wächst in einem „schtetl“ im russischen Zarenreich auf. Als intelligentes Mädchen hat sie hier noch weniger zu lachen, als alle anderen. Nur ihr Vater glaubt an sie und ihre Fähigkeiten. Er bringt ihr Lesen und Schreiben bei, schützt sie – so gut er kann – vor den Anfeindungen und lässt ihr mehr durchgehen, als seiner Frau – Raechels Stiefmutter – lieb ist. Bei einem Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung im Dorf, stirbt Raechels Vater. Nun ist sie der Willkür ihrer Stiefmutter ausgeliefert, die ihr als erstes ihre Bücher wegnimmt. Raechel läuft weg und schließt sich halb erfroren einem Wagenzug an, der mit jungen Mädchen auf dem Weg nach Argentinien ist. Sie sollen dort gut verheiratet werden oder Arbeit finden. Doch schon auf der Überfahrt wird allen klar, dass der Zweck der Reise ein anderer ist.

Luca Di Fulvio begleitet in seinem neuesten Roman „Als das Leben unsere Träume fand“ diese drei jungen Menschen auf ihrer Reise in die neue Welt, die zunächst keinen Deut besser zu sein scheint, als die alte. Nicht nur Steine, sondern ganze Felsbrocken liegen auf ihrem Weg zu einem besseren, selbstbestimmten Leben in Buenos Aires. Gewalt, Brutalität und Willkür gibt es auf beiden Seiten des Ozeans. Selbstherrliche Mafiabosse, macht- und geldgierige Zuhälter, widerliche Adelige, korrupte Polizisten und unermessliche Armut sind an der Tagesordnung. Mehr als einmal geraten Rosetta, Rocco und Raechel in Todesgefahr. Doch sie spüren auch Solidarität und Zuneigung und erkennen, dass „miteinander“ besser funktioniert als „gegeneinander“: So beginnen sie für sich und andere zu kämpfen.

„Für mich macht es keinen Sinn, Geschichten zu erzählen, die nichts mit der modernen Welt zu tun haben,“ sagt Luca di Fulvio in einem Interview. „Deshalb sind wesentliche Themen dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielenden Romans zwei, die nach wie vor Aktualität besitzen: Es geht um Migration (nur die Hautfarbe der Einwanderer hat sich verändert) und um die Ausbeutung von Frauen für die Prostitution.“

Genau das macht für mich diesen Roman so faszinierend und gleichzeitig so erschreckend: Die Probleme sind heute noch dieselben. Die Menschheit scheint nichts dazu zu lernen, positive Errungenschaften verschwinden, sobald sich niemand für ihren Erhalt einsetzt. Luca Di Fulvio legt den Finger auf diese Wunde und packt die Themen in eine so bewegende wie brutale Geschichte, die wieder einmal deutlich macht, dass es auf jeden einzelnen von uns ankommt, wenn sich etwas ändern soll. Mit Rosetta, Rocco, Raechel und einigen anderen hat er Charaktere geschaffen, die man nicht so schnell vergisst und die mutig voran gehen.

Manche Figuren, wie der Baron oder der Zuhälter Amos, wirken zunächst in ihrer Gewaltbereitschaft überzeichnet, doch wenn man die Realität betrachtet mit den Grausamkeiten, die Menschen im Krieg oder durch Terrorismus, im Frauenhandel oder durch Schlepperbanden angetan werden, dann sind sie vielleicht doch nicht so weit hergeholt. Und auch, wenn man ihre Taten nicht verstehen oder gutheißen kann, schafft es Luca Di Fulvio, sie anhand ihrer Lebensgeschichte nachvollziehbar zu machen und diesen Charakteren Tiefe zu geben.

„Als das Leben unsere Träume fand“ ist ein Buch, das bestens unterhält und wütend macht, das aufrüttelt und bewegt. Ich habe es verschlungen und empfehle es allen, die gerne gut geschriebene historische Romane mit einer Botschaft lesen, die bis ins Heute wirkt und die sich von Gewaltdarstellungen nicht abschrecken lassen.

Luca Di Fulvio: Als das Leben unsere Träume fand.
Bastei-Lübbe, Oktober 2018.
768  Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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