Mareike Fallwickl: Und alle so still

Die österreichische Schriftstellerin Mareike Fallwickl (Jahrgang 1983) hat 2022 mit ihrem Roman „Die Wut, die bleibt“ ein sehr erfolgreiches Stück Gegenwartsliteratur geschaffen. Nun erschien am 16. April 2024 „Und alle so still“ bei Rowohlt Hundert Augen. Es knüpft an ihren letzten Roman an, ist jedoch noch ein Stück radikaler und aufwühlender.

Mareike Fallwickl stellt in „Und alle so still“ drei Protagonisten in den Mittelpunkt ihrer Geschichte. Zunächst ist da die Anfang zwanzigjährige Elin, die mit ihrer Mutter Alma in einem Wellness-Hotel lebt, das von ihrer Mutter gemanagt wird. Elin selbst ist erfolgreiche Influencerin mit 1,2 Millionen Followern. Allerdings macht ihr das Leben auf Social Media immer mehr Stress. Sie hat Sex mit zahllosen Männern. Einer davon fickt sie ohne Kondom. Fortan begleitet sie die Furcht vor einer Schwangerschaft.

Nuri ist neunzehn, hat die Schule abgebrochen und schlägt sich als Fahrradkurier, „Bettenschubser“ im Krankenhaus und nachts als Aushilfe in einer Bar durch. Er wohnt bei seinen Eltern, die in Sprachlosigkeit und Schweigen versunken sind.

Ruth, die dritte Hauptfigur, ist Mitte fünfzig, arbeitet als Krankenschwester und hat ihren schwerbehinderten Sohn Fritz verloren. Wenn Ruth singt, ist sie glücklich.

Vor die Kapitel, die mit Wochentagen überschrieben sind, setzt sie kurze, in der Ich-Perspektive der jeweiligen Überschrift formulierte Exkurse mit den Titeln „Die Pistole“, „Die Berichterstattung“ und „Die Gebärmutter“. Und die Perspektiven dieser nicht-figürlichen Akteure sind enthüllend und entlarvend.

Fallwickl beschreibt das Leben ihrer drei Figuren, die allesamt zutiefst erschöpft und rundherum unglücklich sind. Dann kommt es zu einer Protestaktion von Frauen vor dem Krankenhaus, in dem Ruth arbeitet. Die Frau legen sich in stummem Protest auf den Asphalt. Sie verweigern, weiter die Care-Arbeit in der Gesellschaft zu verrichten. Und hier laufen auch die Fäden, an denen Elin, Nuri und Ruth hängen, zusammen. Elin lernt ihre Großmutter Iris und ihre Tante Ruth bei dieser Aktion kennen. Sie beschliesst, sich dem Protest der Frauen anzuschließen. Nuri kennt Ruth aus dem Krankenhaus, in dem sie beide arbeiten. Er solidarisiert sich mit den protestierenden Frauen. Immer mehr Frauen schließen sich an. Die Gesellschaft versinkt im Chaos. Das System gerät ins Wanken. Die Männer werden wütend und setzen zum Gegenangriff an. Es gibt Tote und Verletzte. Elin, Nuri und Ruth wissen, dass sie nicht mehr in ihr „altes“ Leben zurück wollen. Und auch Elins Mutter Alma lernt die Gemeinschaft mit den anderen Frauen schätzen.

„Und alle so still“ von Mareike Fallwickl ist eine erschütternde Geschichte. In Fallwickls unnachahmlicher Bildsprache:

„Aus Splittern besteht sie, ein Menschenmosaik, überall verliert sie kleine Stücke, kann nicht stehen bleiben, nicht innehalten, muss den Rest mitnehmen und einfach schneller laufen, damit wenigstens irgendwas am Ziel ankommt, und das, was wegrieselt, wächst hoffentlich wieder nach.“ (S. 33)

Eine Geschichte, die an den Fundamenten unserer Gesellschaft rüttelt, die die Rollen der Frauen als Kümmerinnen, Pflegerinnen und Care-Arbeiterinnen, aber auch anderer prekär Beschäftigter gnadenlos beleuchtet und die rückgewandten Reaktionen des männlichen Teils der Gesellschaft drastisch beschreibt. Die Frauen begehren auf gegen Ausbeutung, Erschöpfung und Missachtung. In Stille und Reglosigkeit, so dass die Reaktionen der Männer noch gewalttägiger und brutaler erscheinen. Damit geht Fallwickl nach „Die Wut, die bleibt“ noch einen Schritt weiter: von einem einzelnen Familienschicksal zu einem gesamtgesellschaftlichen Kontext.

Das ist am Ende  ein wenig zu plakativ und flüchtig geraten, und ihre Protagonisten sind nicht ganz so eindrücklich gezeichnet wie die in ihrem letzten Roman, aber Fallwickls Motiv der strikten und rigorosen Verweigerung von Frauen erfährt durch die Zuspitzung die nötige und längst überfällige Beachtung. Was wird aus dieser Gesellschaft, wenn sich mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verweigert und sich in ihrer Verweigerung solidarisiert? Das können wir in „Und alle so still“ lesen und sollten es auch tun.

Mareike Fallwickl: Und alle so still.
Rowohlt Hundert Augen, 16. April 2024.
368 Seiten, Gebunden, 23,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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