Louise Meriwether: Eine Tochter Harlems

Als die Lehrerin Francie erklärt, wie wichtig es für sie sei, Nähen zu lernen, begründet sie dies mit der überschaubaren beruflichen Perspektive für schwarze Mädchen. Es lohne nicht, Schreibmaschine und Stenografie zu lernen, weil sie niemals Sekretärin werden könne.

Es sieht so aus, als wäre Francie in einer Sackgasse geboren, die ihr keine Chance für ein eigenständiges Leben erlaubt. Und die Zeit der großen Depression nimmt mit vollen Händen ihre Träume.

Die Amerikanerin Louise Meriwether (1923–2023) war nie der Ruhm vergönnt wie Toni Morrison oder Alice Walker. Sie fiel als politische Aktivistin und Journalistin auf. Durch ein Interview lernte sie James Baldwin kennen und schätzen. Er wurde ihr Freund und schrieb das Vorwort zu ihrem Debüt.

1970 erschien ihr erster Roman Eine Tochter Harlems. Darin beschreibt sie ungeschönt und erschreckend offen das Leben der schwarzen Bevölkerung im Harlem der 1930-iger Jahre. Ihre Themen sind Fremdenhass und die Armut von schwarzen Mädchen und Frauen. In einer Szene beschreibt die Autorin, wie eine junge Mitarbeiterin von der Fürsorge verlangt, Francies Eltern müssten zuerst die Ausbildungsversicherung ihrer drei Kinder auflösen, bevor sie mit einer staatlichen Unterstützung rechnen dürfen. Nach der Auflösung stellt sich heraus, dass ihre Eltern nur geringfügig Unterstützung erhalten und sie mehr verlieren als gewinnen. Die Jagd nach dem Geld ähnelt einem unmöglichen Unterfangen. Der arbeitslose Vater versucht, über Poker- und Glücksspiele seine Familie zu ernähren, während die Mutter für wenige Pence in fremden Haushalten putzt. Francie und ihre älteren Brüder sind sich selbst überlassen. Eines Tages wird ihr ältester Bruder mit anderen Jugendlichen für einige Wochen inhaftiert, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind. Zwei von ihnen behaupten unter Prügel, einen Weißen ermordet zu haben und werden im Alter von sechszehn Jahren durch Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt.

Louise Meriwether zeigt auch übliche Erziehungsmethoden: Francies Brüder werden mit dem Riemen geschlagen. Francie erlebt harte Worte und mitunter Schläge, bis das widerspruchlose Dulden zu ihrer zweiten Natur wird.

Die Autorin lässt die naive Zwölfjährige erfrischend offen und lakonisch erzählen, wie sie zudringliche Männerhände ertragen muss, weil sie unter anderem beim Metzer Hackfleisch und Gratis-Suppenknochen holen soll. Gleichzeitig ermahnt ihre Mutter, keine Dummheiten mit den Jungen zu machen. Was sie genau damit meint, bleibt ungesagt. Noch eine Weile versteht Francie nicht, was die grapschenden Hände bedeuten.

Francie lernt, dass Worte und Taten nicht zusammenpassen. Sie fragt sich unter anderem, warum schwarze Menschen in verwahrlosten Häusern mit Ratten und Ungeziefer leben müssen und warum Armut und Rechtlosigkeit zum Alltag gehören.

Das originelle Romanende hallt wie ein Paukenschlag lange nach und dies nicht nur, weil Francie zum letzten Mal spricht. In ihrer Empörung schwingt so viel mit, dass man als Leserin auf Kampfgeist hoffen möchte.

Der Roman erschien, nachdem unter anderem Martin Luther King für die Freiheit der farbigen Bevölkerung gekämpft und gestorben ist. Im Rowohlt Verlag ist Louise Meriwethers Debüt, als Band 3 in rororo Entdeckungen, erstmalig in deutscher Sprache erschienen. Im Anhang des unbedingt lesenswerten Romans findet sich ein Nachwort von der Mitherausgeberin Magda Birkmann mit vielen hilfreichen Informationen.

Louise Meriwether: Eine Tochter Harlems
Aus rororo Entdeckungen, Band 3
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andrea O’Brien
Vorwort von James Baldwin
Nachwort von Magda Birkmann
Rowohlt, Oktober 2023 / 1970
304 Seiten, Taschenbuch, 15,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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