Liv Marie Bahrow: Wellenkinder

Heute: Jans Ehe kann als gescheitert betrachtet werden, trotzdem möchte er Kontakt zu seinem Sohn Conny, verdirbt es aber immer wieder mit anderen Terminen. Dieses Mal ist es ein Anruf aus seiner Heimat Rügen, der ihn von seinem Sohn fernhält. Jans Mutter ist vor 30 Jahren spurlos verschwunden und jetzt scheint es, als habe man die Leiche gefunden. In Rügen angekommen, muss sich Jan um seinen kranken Vater kümmern und um das inzwischen verwahrloste Elternhaus.

1960: Oda flieht mit ihrem Freund Jürgen über die Ostsee aus der DDR, von Anfang an ein wahnwitziger Plan, der schiefgeht. Oda wird gefasst und für Jahre in ein DDR-Gefängnis gesperrt, was mit Jürgen ist, erfährt sie nicht – und das ist vielleicht auch besser so.

1945: Während der Flucht nach Berlin muss Margit mit ansehen, wie eine Mutter ihr Schicksal nicht mehr ertragen kann und vom Schiff über die Reling springt. Das Baby bleibt zurück und geht als Horst gemeinsam mit Margit nach Berlin. Aber Margit ist noch ein Kind und als der Vater aus dem Krieg zurückkommt, ist für einen weiteren Esser kein Platz. Horst kommt ins Kinderheim, aber Margit gibt ihn nie auf.

Alle drei Geschichten sind in diesem Roman, der auf drei Zeitebenen spielt, verwoben. Wir erleben als Leser die Unmenschlichkeit eines Regimes, dass dennoch Anhänger gefunden hat, die bereit sind, sehr weit zu gehen. Wir erleben, wie Spuren längst vergessen geglaubten Unrechts die Gegenwart immer noch beeinflussen und Menschen Trauma verpassen, die anscheinend nie etwas damit zu tun hatten, ja, die sogar Jahre danach geboren wurden.

Sehr schön herausgearbeitet fand ich den feinen Unterschied von Unrechten, die von einzelnen Menschen verursacht wurden – wie Margits Vater – und Unrechten, die systemimmanent waren, wie in der DDR. Weder Margit noch Oda sind schlechte Menschen, sie wollen beide nur das Beste für sich und für Jan und trotzdem verurteilen sie den Jungen – denn das ist er noch, als seine Mutter verschwindet – zu einem grausamen Leben voller Schuldgefühle. Den Hammer fand ich, als Jürgens Identität aufgedeckt wurde, das hatte ich so nicht erwarte und das ist so grausam und unmenschlich Oda gegenüber. Dazu kam, dass der Blödmann den Kontakt zu seinem Sohn, den Oda nie sehen durfte, auch noch abgesichert hatte, ohne auch nur einen Gedanken an die Frau zu verschwenden, die eigentlich nur seinetwegen durch die Ostsee schwimmen wollte.

Der Roman endet eher versöhnlich, aber ich bin nicht sicher, ob das der Realität entspricht. Ob die Wahrheit wirklich Wunden heilen kann, oder ob sie nicht alles nur noch schlimmer macht.

Auch wenn DDR-Romane gerade boomen: Tolles Buch mit wichtiger Botschaft – für die Nachgeborenen von unmenschlichen Regimen jeder Art. Für die, die es nicht selbst erlebt haben und trotzdem dran leiden.

Hier finde ich übrigens auch, dass der Verlag ein gutes Händchen für das Cover bewiesen hat. Ein Kind schaukelt in einem Frauenkopf über den Wellen. Schaukelt es nur in ihrem Kopf? Ist es nur in ihrem Kopf glücklich? Existiert es nur in ihrem Kopf?

Liv Marie Bahrow: Wellenkinder
Ullstein, August 2023
416 Seiten, Paperback, 14,99 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.

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