Es gibt Bücher, die brechen über den Leser herein, entwickeln einen Sog, wie eine literarische Naturgewalt. Laurent Mauvignier hat eine davon geschaffen, zumal sein Roman mit jenem Tsunami beginnt, der am 11. März 2011 über Japan hinwegfegte.
Guillermo und Yuko geben sich hier dem Rausch ihrer Jugend hin. Alkohol, Sex, Partys. „Ihre Körper schreien nach dem Leben“. Doch der Tod lauert bereits im Ozean. Wir begleiten das Paar auf seinen letzten Stunden, die Spannung steigert sich ins Unermessliche, die Welle und ihre Zerstörung beschreibt der Autor so, als habe er sie tatsächlich erlebt, als habe er selbst noch Tage später die schwarze, salzige Flüssigkeit aus Meerwasser, Schlamm und Todesrudimenten erbrochen.
Auch die übrigen Protagonisten dieses Buches machen sich auf die Reise, um auf Erhofftes, Unvorhergesehenes und Neuartiges zu treffen. Mal sind es kleine Szenen, die den Fortgang einer Hochzeitsreise erahnen lassen. Mal sind es schicksalsschwere Begegnungen. Zwei Frauen müssen ihren Lebensweg in Jerusalem nach einem Selbstmord-Attentat überdenken. Eine Mutter findet in Thailand ihr ungeborenes Kind und verliert den Verstand. Der 52-jährige Frantz, dem das Los nur das „alltäglichste aller Leben“ beschieden hat, langweilt sich auf einer Kreuzfahrt, bis er einen Demenzkranken rettet, was seine Gewöhnlichkeit nur kurz aufwertet. In Moskau wird eine verbotene Liebe ausgelebt, in Italien fiebern zwei Senioren einem Ausflug ins Casino entgegen.
Es sind nicht nur Touristen, sondern auch Einheimische, Migranten, Entwurzelte, denen der Autor eine Stimme verleiht. Arroyo arbeitet in einem Luxushotel in Dubai und steht exemplarisch für den unsichtbaren Dienstboten, der aus Achtlosigkeit oder falsch verstandenem Mitleid von denjenigen gedemütigt wird, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Schockierend wird die kulturelle Überheblichkeit vorgeführt, mit der sich drei australische Ehepaare auf einer Afrika-Safari bloßstellen. Die „bornierten Schwarzen“ weigern sich tatsächlich, für ein „authentischeres“ Foto ihre ausgelaschten Nike-Turnschuhe auszuziehen! Am Ende der mühelos ineinander übergleitenden Handlungsstränge landen wir wieder bei einer japanischen Familie in Paris. Der Kreis schließt sich.
Ein Blouson und eine Kassette überdauern sogar die letzte aller Lebensreisen – den Tod!
Vielschichtig und faszinierend, auf die Seele jeder Szene ausgerichtet, liest sich Mauvigniers Roman. Er erkundet die ganze Landkarte an menschlichen Emotionen. Sein Titel „Mit leichtem Gepäck“ erweist sich doppelbödig, nahezu unerfüllbar. Die Last der eigenen Ängste, (Sehn-)Süchte und Geheimnisse wiegt im Ausland ebenso schwer. Wohin die Reisenden auch ziehen, sie nehmen immer sich selbst mit. Kann man in der Fremde einen neuen Standpunkt auf das eigene Leben gewinnen? Der Autor kann es. Er sieht genau hin, gibt wieder, was anderen entgeht. Wie „all diese Menschen, die dicht aneinander vorbeilaufen und einander doch nie begegnen werden.“
Das ist große Literatur. Das ist die ganze Welt auf 400 Seiten.
Laurent Mauvignier: Mit leichtem Gepäck.
dtv, August 2016.
416 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.