Endlose Weiten aus Weizenfeldern und Wäldern, seltene Vögel, intakte Natur: Das Leben im brandenburgischen Unterleuten könnte so schön sein – wenn man nicht unter Leuten wäre …
Hundert Kilometer abseits des Berliner Speckgürtels, von Presse und Politik vergessen, ohne Breitband-Internetanschluss und Kanalisation, führen die 200 Einwohner des Ortes ein anarchisches Leben, in dem Gefälligkeiten mehr wert sind als Geld.
Hier kann sich Juli Zehs grandioser Gesellschaftsroman ausbreiten. Hier werden alle Gräben, welche die Gesellschaft spalten, in der Tiefe ausgelotet. Berliner Aussteiger treffen auf ansässige Bauern, Ostalgiker auf Großkapitalisten, Naturschützer auf Abzocker, Generation Selfie auf Generation Marx.
Als Windräder in Unterleuten erbaut werden sollen, bricht die fragile Wohngemeinschaft auseinander. Sie entpuppt sich als Sammelsurium von Einzelkämpfern, Opportunisten, Manipulanten. Im Mittelpunkt stehen Gombrowski und Kron, Todfeinde und tonangebende Hauptfiguren. Gombrowski ist ehemaliger Großgrundbesitzer und heutiger Bio-Landwirt, der das Vermögen des Dorfes steuert. Kron ist Kommunist mit Leib und Seele, Sohn ärmlicher Kleinbauern, der dem einfachen Volk aus dem Herzen spricht. Neuzugezogene müssen erkennen, dass ihnen Soziologiediplom, Coaching-Ratgeber und Großstadtallüren hier nicht weiterhelfen. Im Grunde genommen geht es um Macht. „Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt.“
Juli Zehs Roman kommt sprachlich in dynamischem Tempo daher. Die Charaktere werden abwechselnd in Kapiteln beleuchtet, wobei sich die Versionen des Geschehenen teils überschneiden, teils widersprechen. Auffällig ist die starke Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung. „Jeder Mensch bewohnt ein eigenes Universum, in dem er von morgens bis abends recht hat.“ Alle handeln mit besten Vorsätzen und erzielen die schlimmsten Ergebnisse. Plötzlich verschwindet ein Kind, werden geköpfte Barbies auf Gartenzäunen gepfählt und Autoreifen in Brand gesetzt.
Eine besondere Rolle spielt die Tier- und Naturwelt. Frieden findet sich im Wald, und selbst der kennt in hitzigen Gewitternächten kein Erbarmen. Vogelschützer, Pferdenarren, Katzen-Messis – in vielen Fällen nehmen Tiere die Stellung des Menschen ein, was im weiteren Verlauf der Geschichte nicht wundert, wenn sich sogar Liebende in den Rücken fallen. Passend dazu trägt der letzte Buchteil den Titel „Fallwild“. Fallwild sind tote Tiere, die im Wald liegen, ohne erschossen worden zu sein. Tiere, die sich selbst „erledigt haben“. Auch Unterleuten entpuppt sich als Fallwild. Als Gemeinschaft, die sich selbst abschafft.
Juli Zeh hat ein modernes, meisterhaftes Panoptikum unserer Gesellschaft geschrieben. Der destruktive Sog bereitet Gänsehaut und kann es mit jedem Thriller aufnehmen. Sympathie bleibt am Ende nur für den gefiederten Kampfläufer. Das ungewisse Schicksal des Vogels, angesichts von Land- und Werteverkauf auszusterben, lässt sich auch auf seine menschlichen Zeitgenossen übertragen.
Juli Zeh: Unterleuten.
Luchterhand Literaturverlag, März 2016.
640 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.