In seinem Roman Mittelreich erzählt Joseph Bierbichler die Geschichte einer bayerischen Seewirtsfamilie über drei Generationen und beinahe einhundert Jahre deutsche Geschichte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert errichtet der alte Seewirt einen neuen Anlegesteg und setzt auf das ohnehin schon reichlich protzige Haus ein weiteres Stockwerk. Die idyllische Lage lockt die Ausflügler in Scharen an den See. Mit den Gästen kommt gesellschaftlicher Weitblick und ein gewisser Wohlstand. Man gehört nun nicht mehr zu den armen Leuten, ist aber auch nicht richtig reich: mittelreich eben.
Doch dem ältesten Sohn und Erben Toni zerstört im ersten Weltkrieg eine Gewehrkugel nicht nur den Stahlhelm, sondern auch Teile seines Gehirns.
Nach Jahren, in denen die geistige Zerrüttung Tonis immer weiter voranschreitet,
bringt der alte Seewirt seinen ältesten Sohn in einer Anstalt für Geisteskranke unter und stellt seinen zweiten Sohn Pankraz, der den zweiten Weltkrieg mit einem Granatsplitter im Bein überlebt hat, vor die Wahl. Entweder übernimmt der Jüngere die Seewirtschaft mit allen Konsequenzen oder er lehnt sein Erbe ab und wird vom Vater keine weitere finanzielle Unterstützung erhalten.
Pankraz, ein sanfter und grüblerischer junger Mann, der von einer Zukunft als Opernsänger träumt, entscheidet sich für die materielle Sicherheit und gibt seine Gesangsstunden auf. Er heiratet die Bauerntochter Theresa, mit der er einen Sohn und zwei Töchter zeugt und baut die Seewirtschaft weiter zur Touristenattraktion aus. Doch seine Frau leidet unter ihren beiden bigotten Schwägerinnen, die unverheiratet als Jungfrauen im Elternhaus wohnen bleiben, und darunter, dass ihr schwacher Mann sie und ihre Kinder nicht gegen seine Schwestern verteidigt. Erst ein Jahrhundertsturm, der das Dach des Seewirtshauses aus einer Verankerung reißt, holt den Pankraz aus seiner Lethargie und macht einen brauchbaren Familienvater und Unternehmer aus ihm.
Seinen ältesten Sohn Semi schickt Pankraz in ein katholisches Internat, damit dieser neben der Erziehung zur Frömmigkeit auch eine gute schulische Bildung erhält. Semi wird von einem der Mönche missbraucht und fleht den Vater an, ihm die katholische Erziehung zu ersparen. Aber Pankraz und Therese weigern sich, das Unfassbare zu glauben und schicken den Jungen nach den Ferien wieder ins Internat. Semi kehrt als zerbrochener Mensch nach Hause zurück.
Im ersten Drittel ist der Roman Bierbichlers anstrengend zu lesen. Sowohl die dumpfen, oft abstoßenden bäuerlichen Charaktere als auch die derbe, manchmal brachiale Sprache und die vielen langatmigen Beschreibungen, in denen das Gesinde und die Nachbarn der Seewirtsfamilie eingeführt werden, machen es dem Leser nicht leicht, in die Erzählung hineinzufinden.
Doch wer nicht aufgibt, wird beinahe unmerklich in die Geschichte der Seewirtsfamilie hineingezogen. Vor allem der eher intellektuelle Pankraz, der seine künstlerischen Ambitionen aufgeben muss und seine Frau Therese, die von ihren Schwägerinnen unterdrückt und als Häuslerin verachtet wird, bieten genug Identifikationspotential, um sich auf die Erzählung einzulassen.
Bierbichler entfaltet vor dem staunenden Leser ein wüstes Panoptikum dumpfen bäuerlichen Lebens. Man folgt der Geschichte mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu und kann sich dem Sog, den die Erzählung nach und nach entwickelt, nicht mehr entziehen.
Fazit: Keine leichte Lesekost. Aber wer sich auf Bierbichlers verqueres, derbes und doch poetisches Kunstbaierisch einlässt, wird mit einem grandiosen Blick auf hundert Jahre deutsche Geschichte belohnt.
Joseph Bierbichler: Mittelreich.
Suhrkamp Verlag, September 2011.
391 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Martina Sprenger.