Javier Marías: Tomás Nevinson

Der spanische Schriftsteller Javier Marías ist tot. Er starb überraschend am 11. September diesen Jahres kurz vor seinem 71. Geburtstag. Zur Frankfurter Buchmesse erschien sein letzter Roman „Tomás Nevinson“ am 21. September 2022 im S. Fischer Verlag. Susanne Lange hat ihn aus dem Spanischen übersetzt. „Tomás Nevinson“ bildet nach eigenen Aussagen von Javier Marías ein „Paar“ mit dem 2019 veröffentlichten Roman „Berta Isla“.

Tomás Nevinson, ehemaliger Geheimagent des britischen Geheimdienstes und Ehemann der Spanierin Berta Isla, soll seinem Ex-Chef Bertram Tupra einen Gefallen tun. Der wiederum wurde seinerseits von einem Mitglied des spanischen Geheimdienstes um einen Gefallen gebeten. Es geht um eine ETA-Terroristin, die seit Jahren untergetaucht ist und 1987 an Anschlägen der baskischen Untergrundorganisation beteiligt war. 1997 gibt es Hinweise, die auf drei Frauen in einer Provinzstadt im Nordwesten Spaniens deuten. Nevinson soll dort als Englischlehrer, Miguel Centuríon, herausfinden, welche der drei die Terroristin ist, sie überführen oder gar ausschalten. Letzteres deutet Marías schon mit seinem ersten Satz an:

„Ich wurde nach alter Schule erzogen und hätte nie gedacht, dass man mir eines Tages auftragen würde, eine Frau umzubringen.“ (S. 9)

Nevinson alias Centuríon beginnt mit seinen Recherchen über Inés Marzán, eine ledige Restaurantbesitzerin, Celia Bayo, Lehrerin und Kollegin von Centuríon, und María Viana, Mutter von Zwillingen und Frau eines Bauunternehmers und Bürgermeisters von Ruán, wie Nevinson die Stadt tauft. Sie alle stehen in Verdacht, die von der IRA an die ETA ausgeliehene Magdalena Orúe O’Dea zu sein. Er knüpft Kontakt zu den drei Frauen und schläft mit Inés Marzán. Aber er findet keine oder nur unzureichende Hinweise auf eine mögliche terroristische Vergangenheit der Frauen. Seine Auftraggeber werden ungeduldig. Und am Ende muss Nevinson-Centuríon sich entscheiden.

Was hier so kurz in der Inhaltsangabe wiedergegeben ist, füllt Marías in dem Roman mit über 700 Seiten. Darin schildert er detailreich die Bemühungen seiner Hauptfigur, die Terroristin unter den drei Frauen ausfindig zu machen. Mit vielen Rückgriffen auf den vorangegangenen Roman „Berta Isla“, auf Shakespeare, Luther und Baudelaire. Javier Marías ist der Meister der Aufzählung, die sich so zahlreich in diesem Buch finden:

„Nur der erste Schritt kostet Überwindung. Vielleicht gilt das für alles oder für die meisten Anstrengungen, für das, was man nur ungern, widerwillig oder mit Bedenken tut, sehr wenig nimmt man bedenkenlos in Angriff, fast immer verleitet uns etwas, nicht zu handeln, diesen Schritt nicht zu tun, nicht das Haus zu verlassen, uns nicht zu regen, uns an niemanden zu wenden und zu vermeiden, das jemand uns anspricht, ansieht, erzählt… (S. 14)

Das ist schön und anstrengend zugleich für mich als Lesende. So braucht es eine lange Weile bis die Geschichte von „Tomás Nevinson“ auserzählt ist. Nein, diesen Roman liest man nicht in einem Stück durch. Es gibt (zu) viele Exkurse, Wiederholungen, Andeutungen. Den Gedanken und Beobachtungen, den Skrupeln und Bedenken des Protagonisten gibt Marías großen Raum. Nevinson erfüllt hier nicht einfach einen Auftrag. Er ist nicht der Action- Geheimagent-seiner-Majestät wie James Bond, dazu ist er eine charakterlich zu schwache Figur.  Aber er ist ein Macho wie er. Wenngleich auch einer mit Moral. Und er hat ein ungeheures Nachahmungs- und Sprachtalent, er nimmt problemlos die Identität Miguel Centuríons an. Marías’ sprachlicher Kniff ist der Wechsel vom Ich-Erzähler (Nevinson) zum Erzähler in der dritten Person Singular (Centuríon). Und damit dem Wechsel zwischen Nähe und Distanz zu den Figuren und der Handlung.

Marías Dialoge zwischen Bertram Tupra und Tom Nevinson sind philosophisch-literarisch-politisch-historische Lehrstücke. Sie strotzen vor Anspielungen und Zitaten. Da verlangt Javier Marías seinen Leserinnen und Lesern Kenntnis und Bildung ab.

„Tomás Nevinson“ ist großartig geschrieben, das Cover des Buches ist -wie schon bei „Berta Isla“- kongenial ausgewählt. Die Länge des Romans mit all seiner Ausführlichkeit und Redundanz strapaziert allerdings meine Geduld und mein Gemüt. Für mich ist und bleibt „Berta Isla“ der interessantere und stärkere Teil des fiktiven „Paares“ von Javier Marías.

Javier Marías: Tomás Nevison.
Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange.
S. Fischer, September 2022.
736 Seiten, Gebundene Ausgabe, 32,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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