Die lebenskluge und wortgewandte Kully ist zehn Jahre alt und lebt im Exil. Sie erzählt aus kindlicher Perspektive von dem Leben ihrer Künstlerfamilie auf der Flucht. Ihr Vater ist ein verarmter Schriftsteller und Trinker, dessen Bücher in Deutschland verboten sind. Mit ihm und der Mutter reist Kully durch Europa, in der Hoffnung auf Aufträge für den Vater, die ihnen das Überleben sichern. Das „Kind aller Länder“ reist durch Belgien, Frankreich und New York. Immer lebt sie mit ihren Eltern in Hotels, wird dort oder in Cafés allein gelassen, wird zu Freunden und Verwandten mitgenommen, die Geld leihen und helfen sollen.
Sie kennt das größte Problem des Vaters: Er hat einen Vorschuss für einen Roman bekommen, den es nicht gibt. Keine Zeile hat er geschrieben, das Geld aber ist längst aufgebraucht.
Naiv und hoch motiviert schlägt Kully vor, das Buch selbst zu schreiben.
Sie philosophiert über die Realität von Grenzen, über die Menschen gehen, auf deren Linien sie gehen und die von Schaffnern in Zügen bewacht werden. Sie beschäftigt sich auch mit dem Krieg: „Krieg ist etwas, das kommt und alles tot macht. Dann darf ich nirgends mehr spielen, und immerzu fallen Bomben auf meinen Kopf.“
Sie liest, was in den Zeitungen steht, die sie in die Finger bekommt: Geschichten „von unbewachten kleinen Kindern, die ins Wasser fallen, oder von siebzigjährigen Männern, die von Lastwagen angefahren werden, auch von wilden Frauen, die ihre ganze Familie mit einem Beil totmachen.“
Ihr Vater vergleicht solche Nachrichten mit rot lackierten Fingernägeln, einer „Modetorheit“.
Keun lässt Kully auch Briefe finden, die dem Leser Einlicke geben in Ereignisse, die mit Kullys Sprache nicht wider zu geben wären.
Der Ton des Romans ist nicht verzweifelt, das zehnjährige Kind überblickt nicht den großen Zusammenhang, in dem sein unstetes Leben eingebettet ist, weiß nicht, was der Leser weiß. Das Schicksal von Schildkröten oder das Glück, wenn der Vater mit langer Verspätung zurück in ein Hotel kommt, sind wichtig aus der Perspektive des Kindes, das die Entwurzelung, die Armut, die ständige Gefahr spürt, deren Ursachen aber nicht versteht.
„Kind aller Länder“ erschien 1938 in einem Exilverlag; Keun war aus Deutschland geflohen, weil ihre Texte als „antideutsch“ eingestuft wurden. Sie teilt das Schicksal des schreibenden Vaters also eher als das von Kullys Mutter, die für den begabten und verzweifelten Ehemann lebt und sich seinem Talent unterordnet, die als Zimmermädchen arbeiten will, aber es nicht darf.
Die Orte, von denen Kully erzählt, kennt Keun von ihrem eigenen Leben als Exilantin, gemeinsam mit Joseph Roth, durch ihre Aufenthalte in Europa und New York.
Die nach dem Krieg beinah vergessene Autorin wurde Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wieder entdeckt und ihre Texte neu gelesen.
Meine erste Erfahrung mit Keuns Texten, angefangen mit „Das kunstseidene Mädchen (1932) liegen ungefähr 20 Jahre zurück: Eine zerfledderte und aussortierte Büchereiausgabe mit vielen Anmerkungen am Rand ist inzwischen wieder irgendwohin verschwunden.
Die wunderschön gebundene und mit Lesebändchen versehene Ausgabe von Kiepenheuer und Witsch lässt die Geschichte um Kully buchstäblich in neuem Licht erscheinen. Und natürlich denke ich heute beim Lesen an andere Flüchtlinge, die, über die Welt verteilt, heute in Europa ankommen. An ihre Not, ihre Verfolgung.
Irmgard Keuns Sprache entfaltet einen Sog, ihre Schilderungen der Familie im Exil, einer Familie, die Kully Liebe und Geborgenheit im Elend schenkt, ist es absolut wert, neu aufgelegt und (wieder) gelesen zu werden.
Volker Weidermann beschreibt Keuns Geschichte, die Geschichte ihrer Bücher und die ihrer Wiederentdeckung in einem wunderbaren, erhellenden Nachwort (Auszug aus „Das Buch der verbrannten Bücher“, 2008).
Irmgard Keun: Kind aller Länder.
Kiepenheuer & Witsch, Februar 2016.
224 Seiten, gebundene Ausgabe, 17,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.