Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus

Ein literarisches Schmankerl für Kunstliebhaber und Freunde feiner, intellektueller Spitzen! In diesen drei Erzählungen von Ingo Schulze spielt die Kunst eine wesentliche Rolle. Was sagt sie uns wirklich? Auch das intellektuelle Umfeld nimmt Raum ein, welches er in herrlich entlarvenden Dialogen zeichnet. Man debattiert über Hochgeistiges, offenbart dabei Tiefemotionales. Komik und Tragik halten sich in Schulzes Prosa gekonnt die Waage. Am Ende stellt sich die Frage: Sind die Verrückten im Irrenhaus – oder tummeln sie sich draußen herum?

Die drei im Band versammelten Erzählungen wurden von Schulze bereits in Literaturzeitschriften veröffentlicht, entfalten ihre ganze Kraft aber in gebündelter Form. Der Autor selbst bezeichnet sie als Reflexionen eines Künstlers über drei Kunstwerke. In der ersten Erzählung „Das Deutschlandgerät“ handelt es sich um eine Installation von Reinhold Mucha, die 1990 für den Deutschland-Pavillon auf der Biennale in Venedig aufgebaut und später in Düsseldorf reinstalliert wurde. Der Schriftsteller B.C. erkennt sich in dem Kunstwerk wieder. Auch für ihn bedarf es einer Re-Installierung, da seine Worte plötzlich „falsch im Raum stehen“. Als Dissident war er einst aus der DDR in den Westen gekommen. Er hat erfahren, dass man als Person oder Schriftsteller nicht einfach so versetzt werden kann, ohne in einen anderen Kontext gerückt zu werden. Für Worte, für die er einst gefeiert wurde, wird er heute verurteilt. Hier wie dort fühlt sich B.C. nicht zugehörig.

In der titelgebenden Geschichte „Tasso im Irrenhaus“ handelt es sich um das gleichnamige Werk von Eugène Delacroix. Der Ich-Erzähler soll darüber einen Vortrag halten und besichtigt das Gemälde in Winterthur. Dort rückt ihm ein Fremder auf die Pelle, der sich intensiv mit dem Kunstwerk auseinandergesetzt hat und den Vortragenden mit seinem Wissen immer mehr einschüchtert. Beide verstricken sich in Diskussionen, die weit über das gemalte Werk hinausgehen. Es geht um das Einschläfern des ursprünglichen Menschen, die Tyrannei des höflichen Zusammenhangs, um die Schweiz als größtmöglichen Kontrast zu Russland.

In „Der Vorleser“ besucht der Ich-Erzähler Schulze den Maler Johannes Grützke kurz vor seinem Tod in einem Hospiz. Er soll über eines seiner Bilder schreiben. Im Zimmer befinden sich jedoch diverse Familienmitglieder und Freunde, die allesamt über Schulze herfallen und ihm intellektuell auf den Zahn fühlen. Was ist das Ziel des Malers? Kann jemanden etwas gegen seinen Willen eingeprägt werden? Ist Malerei der Schriftstellerei überlegen? Die Dialoge strotzen vor kleiner, bösartiger Spitzen, die trotzdem nie ihren Charme verlieren. Meisterhaft zeigt Schulze die Schwächen seiner Protagonisten – wie Eitelkeit oder Minderwertigkeitskomplexe – auf, ohne diese bloßzustellen.

Hinter den drei lyrischen Erzählern schimmert immer der Autor Schulze hindurch, mal nahezu 1:1, mal mit fiktionalen Rahmenbedingungen. Wir sind dem Ich-Erzähler ganz nah, spüren sein Unbehagen, seine Verwirrung, verfolgen seinen Erkenntnisprozess. Wir sehen den Irrsinn der Welt durch seine Augen. Dieser kommt in unterschiedlichsten Facetten daher, zum Beispiel in Form eines grantigen Rentners in sandfarbener Garderobe. Dazwischen immer wieder Sätze, die sich ins Gehirn einfräßen. „Der Zukunftslose ist der Vergangenheitsreiche“ ist so ein Exemplar. Oder: „Kunst ist nicht modern, sondern immer.“

Fazit: Ein erfrischend kluges Buch, dass nicht nur Kunstkenner begeistern wird. Kunst mit ihrem Symbolgehalt erweitert das Spektrum der Sprache. Wer an literarischen Spitzen seine Freude hat, ist hiermit bestens beraten. Ingo Schulze, der seit Jahren kontinuierlich einen Literaturpreis nach dem anderen abräumt, zeigt hier, dass er jeden einzelnen davon wert ist.

Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus.
dtv, Mai 2021.
160 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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Ein Kommentar zu “Ingo Schulze: Tasso im Irrenhaus

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