Ingo Schulze: Dresden wieder sehen

Kennen Sie das? Sie lesen einen Text und ertappen sich permanent dabei, wie Sie ausrufen: „Genau!“ oder „Meine Rede, nur besser formuliert!“ oder gar „Woher kennt der Mann meine Gedanken?“ So erging es mir beim Lesen der Texte in Ingo Schulzes „Dresden wieder sehen“.

Der Autor von u.a. „Tasso im Irrenhaus“ oder „Die rechtschaffenen Mörder“ ist in Dresden geboren und aufgewachsen, lebt jedoch seit vielen Jahren in Berlin. Von dort beobachtet er mit Interesse das gesellschaftliche Leben in der Heimatstadt. Davon zeugt sein neues Buch. Das schmale Bändchen im regenbogenbunten Design beinhaltet mehrere Essays, einen offenen Brief und seine Dresdner Rede, und damit Texte, in denen er auf aktuelle Entwicklungen in der Stadt eingeht. Die Publikationen entstanden zwischen 2006 und 2021.

Ingo Schulze geht dem Mythos Dresden auf den Grund, fragt nach dessen Ursachen und was vom Mythos übriggeblieben ist. Er beschreibt seinen ersten Eindruck beim Anblick der wiedererbauten Frauenkirche: „Je näher ich der Frauenkirche kam, um so mehr schien sie sich zu verwandeln, um dann, vom Neumarkt aus betrachtet, zu ihrer eigenen Wachsfigur zu erstarren“ (S.17)

Er schildert seine Erlebnisse bei der Blockade des Nazi-„Trauermarsches“ am 13. Februar 2010, zu der er extra aus Berlin angereist war. Widerstand als Bürgerpflicht und das gute Gefühl, einer von mehreren Tausend Gegendemonstranten gewesen zu sein, die den Nazi- Aufmarsch verhindert haben. Bei einem anderen Besuch 2015 mischt er sich unter eine Pegida-Demonstration, wundert sich über die Forderungen, die gestellt werden und noch mehr über die, die nicht gestellt werden. Er konstatiert auf Seiten der Demonstranten Sprachlosigkeit und das Fehlen relevanter Ziele: „Und dann sind die Reden schon vorüber. Und ich denke, jetzt ziehen sie alle los und haben gar keine Forderungen, die wirklich etwas mit ihrem Leben und ihrer Unzufriedenheit zu tun haben.“ (S. 33)

Auch die weiteren Texte beschäftigen sich mit der Tatsache, dass Dresden immer wieder mit Meldungen über Aktivitäten rechter Gruppierungen in den Fokus rückt. Ingo Schulze erklärt und begründet seine Haltung zum Schulterschluss zwischen dem Verlagshaus Loschwitz und dem Verlag Antaios, schreibt dazu auch einen offenen Brief an den Radebeuler Autor Jörg Bernig, der dem Verlagshaus Loschwitz ebenfalls nahesteht. Er findet eine Ursache für den Zulauf zu rechten Ideologien in der fortgesetzten Geschichtsfälschung in Bezug auf die DDR und den Ostblock, eine andere im Umgang mit den Menschen im Osten und ihren Lebensleistungen und im fast vollständigen Austausch der Eliten nach 1989. Immer wieder gelingt ihm der Bogen von Dresden hin zu gesamtdeutschen Konstellationen oder Ereignissen.

Ingo Schulze zeigt sich in seinen Texten als scharfsinniger Analyst gesellschaftlicher Zustände, der sich nicht scheut, unbequeme Gedanken zu äußern, der sich einbringt, sei es mit seiner Dresdner Rede oder durch Teilnahme an einer nicht genehmigten Demo gegen Rechts. Er beschreibt die Zustände in Dresden als Symptom für die Verhältnisse im ganzen Land und genau deshalb kann ich das schmale, aber inhaltlich schwergewichtige Buch allen mit gutem Gewissen empfehlen.

Ingo Schulze: Dresden wieder sehen.
Wallstein, Juli 2021.
76 Seiten, Gebundene Ausgabe, 16,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Jana Jordan.

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