Ewald Frie hat zehn Geschwister. Der älteste Bruder wird 1944 geboren, die jüngste Schwester 1969. Ewald ist die Nummer neun. Familie Frie betreibt in Münster in Westfalen einen Viehzucht- und Milchviehbetrieb. Ewald Frie, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen, hat seine Geschwister interviewt und sie nach ihren Kindheits- und Jugenderlebnissen befragt. Anhand ihrer unterschiedlichsten Erfahrungen macht er den Wandel in der deutschen Landwirtschaft sichtbar. Er berichtet von der stillen Auflösung der bäuerlichen Gesellschaft. Haben die Ersten in der Geschwisterreihe noch Hilfskräfte am Hof erlebt, eine Gemeinschaft, in der beinahe jeder nach Stall roch und Pferde vor den Pflug gespannt wurden, so ist die Welt eine völlig andere, als die Jüngste, Martina, den Hof verlässt, um eigene Wege zu gehen. Bis ca. 1830 blickt der Autor in seiner Familiengeschichte zurück. So einschneidende Veränderungen wie zwischen 1950 und 1980 hat es niemals zuvor gegeben.
Dabei sind beileibe nicht alle Veränderungen schlecht. Dass die Mädchen selbstständig über ihre Zukunft bestimmen können, alle Fries etwas lernen, manche sogar studieren dürfen, ist der „modernen“ Zeit geschuldet. Ewald Frie blickt nicht verbittert zurück in die „guten, alten Zeiten“. Er dokumentiert aber anschaulich den unvorstellbaren Wandel, dem die agrarisch geprägte Gemeinschaft in der angegebenen Zeitspanne unterliegt.
Interessante Lektüre
Gerade heute, wo viele Menschen die riesigen Tierproduktionsfabriken anprangern, wo man vor dem Problem der fallenden Grundwasserspiegel steht angesichts riesiger Felder, berechtigt nach der Artenvielfalt fragt, ist Professor Fries Buch eine überaus interessante Lektüre. Es zeigt, wie „das Land“ das geworden ist, wie wir es heute vorfinden. Einen Hofnachfolger gibt es für sein Elternhaus übrigens nicht. Der älteste Bruder wohnt noch dort, die Stallungen sind aber leer, der Grund verpachtet. Die Bewirtschaftung ist nicht mehr rentabel.
Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben.
C.H. Beck, März 2023.
191 Seiten, gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.
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