Der New Yorker Anwalt Newland Archer und May Welland werden sich verloben – das steht fest. Nun ist überraschend Mays Cousine, Gräfin Ellen Orlenska aus Europa angereist und es droht der Familie Welland ein Skandal: Ellen ist vor ihrem Mann geflohen und will sich in New York scheiden lassen. Die moderne, aufgeschlossene „neue“ Welt scheint ihr für einen Neuanfang der richtige Ort zu sein.
Allerdings sind die gesellschaftlichen Regeln New Yorks im 19. Jahrhundert, zumindest bei den wenigen alten Familienclans, die wirklich zählen, strenger als das Gesetz und für Fremde wie Ellen undurchschaubar.
Um Ellen nicht nur von Seiten der Welland-Familie den Rücken zu stärken, sondern auch die Newlands hinter ihr zu wissen, wird Mays und Archers Verlobung daher sofort bekannt gemacht. Die Gesellschaft hat das Ereignis bereits erwartet und alles ist gut.
Allerdings kann Ellen sich nicht auf ihre neue Umgebung einstellen, sie trägt die falschen Kleider, macht Bekanntschaft mit den falschen Leuten und begreift spät, dass beide Familien alles dafür tun, ihr den Weg in die New Yorker Gesellschaft zu ebnen.
Eine Voraussetzung dafür ist, dass sie auf Scheidung verzichtet. Newland wird auserkoren, sie von diesem Schritt zu überzeugen. Überhaupt wird er von seiner schönen, klugen, sportlichen und scheinbar naiv-unwissenden Verlobten und deren Familie, auch von seinem Arbeitgeber in der Kanzlei und von Ellen selbst immer wieder gebeten und genötigt, sich Ellens anzunehmen. Er berät sie, beschenkt sie mit Blumen, reist ihr ungehörigerweise hinterher, als sie bei Freunden zu Besuch ist und verfällt ihrer Schönheit, begeistert von ihrem unkonventionellen Auftreten, ihrer Lebenserfahrenheit und kultureller Bildung.
Er schwankt zwischen Ellen und May, die die perfekte Braut ist und fragt sich, ob sein Leben mit May nicht viel langweiliger sein würde als das an Ellens Seite. So gibt es weitere heimliche Treffen mit Ellen, er versucht sich vor der Versuchung durch eine gesellschaftlich unmögliche vorgezogene Hochzeit mit May in Sicherheit zu bringen.
Im Mittelpunkt dieser Geschichte von einem Mann zwischen zwei Frauen steht das alte New York; der Buchtitel lautete ursprünglich „Old New York“.
Das Buch wurde 1993 von Scorsese mit Michele Pfeiffer und Daniel Day-Lewis verfilmt. Auch im Film wurde dem Interieur, Möbeln, Kleidung, die den sozialen Status der Figuren sichtbar machen, großer Raum gelassen. All diese Accessoires sind mehr als Mode, jeder Handschuh, jedes Umziehen vor dem Dinner, jede Farbe hat Bedeutung und wird gedeutet. Die Sprache der Figuren ist vielschichtig und die Berührung eines Fächers kann die New Yorker Gesellschaft erschüttern.
In dieser Liebesgeschichte sind sich May und Ellen, die so gegensätzlich und dennoch jede für sich so perfekt dargestellt werden, in einer Sache einig: Sie schätzen ihre Situation realistisch ein. Ellen und May wissen um Archers Dilemma und kennen die Konsequenz, die eine offiziell gemachte Beziehung zu Ellen für alle Drei hätte.
Für alle, die das Buch noch nicht gelesen oder den Film gesehen haben, würde ich jetzt mit jedem weiteren Wort zu viel verraten.
Daher zur Übersetzung von Andrea Ott aus dem Englischen: Im Vergleich zur Übersetzung aus der Dreißigerjahren wird die Bedeutung der Dinge, Gebäude, Straßen, Kleider sehr deutlich gemacht, vielleicht aus dem nötigen zeitlichen Abstand heraus, der diese Bedeutung erkennen lässt. Nicht Europa ist altmodisch und regelkonform. Die alten New Yorker haben Regeln konserviert, die im Europa des 19. Jahrhunderts bereits gelockert werden und aufgebrochen sind.
Diesen Klassiker zu lesen ist eine Freude: Der Leser steht immer mitten im Raum und sieht und riecht und fühlt, was die Figuren sehen, riechen und fühlen, manchmal weiß er ein wenig mehr als sie, oft wird er von der Unabwendbarkeit der Umstände überrascht.
Die Autorin gehörte zur Upper-Class von New York und war ein Kind der Zeit, die sie beschreibt. Sie erhielt für „Zeit der Unschuld“ den Pulitzerpreis und war Ehrendoktorin der Yale-University.
Das Buch ist wunderschön ausgestattet: Leinen mit Schutzumschlag und Lesebändchen.
Empfehlung: Das Buch unbedingt (neu) lesen!
Edith Wharton: Zeit der Unschuld (1920).
Manesse Verlag, September 2015.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,95 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.