Rockfans werden dieses Buch lieben. Es handelt von einer fiktiven Rockband namens „Utopia Avenue“, die im England der 60er-Jahre langsam aus dem Nichts aufsteigt und schließlich die Charts erobert. Nach mäßig erfolgreichen Anfängen in kleinen Clubs in Soho findet das kurze Dasein der Band ihren Höhepunkt in einer rauschhaften Amerika-Tournee.
Der britische Autor David Mitchell, geboren 1969, beschreibt das alles auf 750 Seiten derart authentisch und glaubwürdig, dass man immer wieder versucht ist, bei YouTube oder Spotify nach Musik von Utopia Avenue zu suchen.
Da ist Bassist Dean mit seinem gestörten Verhältnis zum Vater. Er ist dauerpleite und im Grunde obdachlos. Da sind Folksängerin und Pianistin Elf mit ihrem verkorksten Männergeschmack und Drummer Griff, der einen schweren Autounfall verarbeiten muss. Der geniale Gitarrist Jasper mit psychischen Problemen macht die Band komplett.
Witzig ist, dass die Vier immer wieder auf Größen der Rockgeschichte treffen: Marc Bolan von T. Rex, David Bowie, Jerry Garcia von Grateful Dead, Syd Barrett von Pink Floyd oder Stones-Mitgründer Brian Jones treten auf.
Die politischen Probleme jener Zeit (Vietnam-Krieg) kommen genauso vor wie die Konflikte im Privaten, die sich oft um den Gegensatz von traditionellen Lebensweisen mit Familie und gesichertem Einkommen einerseits und dem Wunsch nach einem freieren selbstverwirklichten Leben andererseits drehten (und möglicherweise heute noch drehen).
Mitchell leistet sich zwischendurch einen kleinen Exkurs in ein komplett anderes Literatur-Genre, den Horror, wenn es um das psychische Problem geht, das Jasper plagt. Diese Episode erinnert ein wenig an ein früheres Werk des Autors: das extrem gruselige „Slade House“ (2018). Das kann man seltsam finden – oder auch als Beweis für seine Vielseitigkeit deuten.
David Mitchell: Utopia Avenue.
Aus dem Englischen übersetzt von Volker Oldenburg.
Rowohlt, Juli 2022.
752 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.