Hernán wird von seiner Mutter beauftragt, das Haus vom verstorbenen Großvater Martín zu verkaufen. Er erfüllt diese Aufgabe nur, weil er der Lieblingsenkel gewesen ist und als Architekt arbeitet. Mit der verborgenen Überraschung hat er nicht gerechnet. „Er starrt weiterhin die aufgebrochene Wand vor ihm an. Und dann geht er, als hätte er auf einmal begriffen, mit bloßen Fäusten auf das bröckelnde Mauerwerk los, schiebt die Stücke zur Seite.“ (S. 102)
Jeder Mensch kann in eine Ausnahmesituation geraten. Wenn diese dann auch noch mit einer Erkenntnis verbunden ist, haben die Betroffenen nicht nur eine Entscheidung zu treffen. Sie hat auch Auswirkung auf das eigene Leben.
In Claudia Piñeiros facettenreichen Erzählungen finden sich Personen im scheinbar harmlosen Alltag wieder. Ob es sich hierbei um so etwas Banales wie das Raustragen des Hausmülls, ein unbedachtes Wort im Spiel oder einen zweiten Koffer handelt, in jedem Ereignis verbergen sich Fallstricke, die eine Veränderung einleiten. Aus diesem Grund bleiben die Geschichten in Erinnerung. Die von Peter Kultzen übersetzten Texte berühren, erschüttern oder lassen im Kopfkino eine dramatische Fortsetzung entstehen.
Für viele Charaktere beginnt danach ein neuer Lebensabschnitt. Die Autorin bietet viele Möglichkeiten an. Dabei schafft sie es, persönliche Schicksale zu fokussieren. Unter anderem beschreibt sie ihre weiblichen Charaktere als anpackend oder hart arbeitend in ihrem Beruf. Ihre Frauen hinterfragen die ihnen auferlegte Rolle als Mutter, Tochter oder Ehefrau. Sie zeigen sowohl Mitgefühl als auch persönliche Grenzen.
Die in Buenos Aires geborene Claudia Piñeiro hat sich im argentinischen Literaturbetrieb einen Namen gemacht. Sie schreibt nicht nur preisgekrönte Romane, Kinder- und Jugendbücher und Theaterstücke, sondern führt auch Regie für das Fernsehen. Dies spürt man als Leserin auch im Timing der Szenen und dem Spiel mit den Perspektiven. Manche Gegenstände oder Worte erlangen eine weitere Bedeutungsebene, die das Erlebte in einem anderen Licht zeigen. Besonders deutlich wird dies bei der kurzen Erzählung Abfall für Hühner, in der eine Mutter über den häufigen Einsatz von Plastik im Haushalt nachdenkt und die Dinge, die weggeworfen werden. Aber nicht nur in der Entsorgung des Mülls hat sich das Leben der Frauen verändert.
„Diesmal wird es aber besser ausgehen, sie weiß nämlich, was sie tun muss, […] Ihre Großmutter wußte nicht, was sie tun sollte, […] Wo sie damals lebten, gab es nichts, nicht mal Nachbarn.“ (S. 44/45)
Claudia Piñeiro: Wer nicht?.
Unionsverlag, September 2020.
192 Seiten, Taschenbuch, 19,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.