Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Geschichte wird an Menschen konkret. Was dieser packende Generationenroman einmal mehr verdeutlicht Alena Schröder verbindet Nazi-Kunstraub mit vier Frauenschicksalen, welche über 100 Jahre hinweg im Leben der jeweils anderen Spuren hinterlassen. Ausgehend von der jungen Studentin Hannah, die in Berlin mit ihrem Leben hadert. Erst durch einen Blick in ihre Vergangenheit versteht sie ihre Gegenwart. Der Autorin ist ein packender Roman gelungen, der ein Stück deutscher Zeitgeschichte auf persönliche Art aufarbeitet. Ganz nah führt Sie uns an Ihre Hauptfiguren heran – allesamt weiblich, allesamt gegen den Strom schwimmend, allesamt mit den gleichen Fragen kämpfend, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ist es ein Historienroman? Eine Emanzipationserfahrung? Eine Schuld-und-Sühne-Aufarbeitung? Eine Coming-of-Age Geschichte? Dieses Buch ist ein wenig von allem. Und vor allem sehr bewegend.

Ein Berliner Seniorenwohnheim: Zwei unterschiedliche Frauen arbeiten ihre Probleme aneinander ab. Da ist die über 90-jährige Evelyn, eine ehemalige Ärztin, mürrisch, abweisend, mehr oder weniger auf den Tod wartend. Da ist ihre 27-jährige Enkeltochter Hannah, deren Leben nicht in die Gänge kommen will. Sie hadert mit ihrer Promotionsarbeit, der Affäre zu ihrem verheirateten Professor, dem Sinn des Lebens. Seit dem Tod ihrer Mutter vor zehn Jahren will nichts mehr gelingen. Sie kann nicht einmal die Jalousien für ihre Großmutter richtig einstellen. Diese Szene verdeutlicht bereits ein wesentliches Kernproblem – zwar mit gewitzten Untertönen, aber deshalb nicht weniger tragisch – beide Frauen mögen einander, haben eine starke Verbindung, können ihre Zuneigung aber nicht zum Ausdruck bringen. Was sich wie ein roter Faden durch ihre Familiengeschichte zieht.

Mit dieser beschäftigt sich Hannah zwangsläufig, als sie einen Brief aus Israel bei ihrer Großmutter entdeckt. Evelyn sei Erbin eines verschollenen Kunstvermögens, das durch die Nazis entwendet wurde. Wie ist das möglich? Hannah hat doch keine jüdischen Vorfahren, oder etwa doch?

In Rückblenden erzählt die Autorin, was sich damals wirklich zugetragen hat. Wir lernen Urgroßmutter Senta kennen, eine eigensinnige, emanzipierte Frau, die in das pulsierende Berlin der zwanziger Jahre eintaucht. Als Ehefrau eines Juden bietet sie der Naziherrschaft mutig die Stirn. Die Entscheidung für dieses Leben war jedoch mit einem hohen Preis verbunden. Sie musste ihre Tochter Evelyn bei ihrem Ex-Mann zurücklassen. Nach seinem Tod wächst diese bei ihrer Tante Trude auf, die zu einer glühenden Nazi-Anhängerin wird. Eine brisante Konstellation, welche Evelyns hartnäckiges Schweigen erklären könnte.

Wir LeserInnen nähern uns der Wahrheit auf zwei Enden des Zeitstrahls. Vergangenheit und Gegenwart bewegen sich unaufhaltsam aufeinander zu. Dies liest sich wahnsinnig spannend. So werden wir Zeugen, wie sich die Lage einer jüdischen Kunsthändlerfamilie immer mehr zuspitzt, wie sich Frauen zwischen Lieben, Selbstverwirklichung und Gefahr aufreiben.

So unterschiedlich die Frauen in Hannahs Familie sind, sie haben ähnliche Probleme: Die Mutterrolle finden sie zum Großteil als Belastung, als Journalistin, Ärztin und Umwelt-Aktivistin hingegen ihre Berufung. Liebesglück erhalten sie stets auf Umwegen, manchmal auch gar nicht. Je näher wir Leser der Auflösung über das Rätsel des verschollenen Kunstvermögens kommen, desto mehr entwirrt sich auch der Knoten in Hannahs Leben.

Der lyrisch anmutende Buchtitel bezieht sich auf eines der verschollenen Bilder mit unbekanntem Titel. „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ könnte ein Hinweis auf ein Vermeer-Bild sein, der eine ähnliche Motivik in mehreren seiner Werke gewählt hat. Dennoch bleibt das Kunstthema nur die Hintergrundleinwand der Story, ein Symbolbild für Gefühlswelten.

Der Debütroman der Autorin Alena Schröder, die als Journalistin für Magazine wie Brigitte und das SZ-Magazin schreibt, ist an ihre eigene autobiografische Familiengeschichte angelehnt. Daraus erwächst eine starke emotionale Kraft. Denn hinter allem steht die immer noch schmerzvolle Thematik: Was tun, wenn in der eigenen Familie sowohl Opfer, als auch Täter der Naziherrschaft anzutreffen sind?

Fazit: Spannende Zeitgeschichte, verdeutlicht anhand von vier bewegenden Frauenschicksalen. Der Roman wirft Fragen auf, deren Beantwortung wir uns auch heute noch stellen sollten. Sowohl, was die politische Vergangenheit Deutschlands angeht, als auch die Rolle der Frau. Denn alles ist mit allem verbunden. Ein berührender und bewegender Roman.

Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid.
dtv, Januar 2021.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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