Catriona Ward: Das letzte Haus in der Needless Street

Ted ist ein eigenartiger Mann. Geistig ein wenig zurückgeblieben galt er vor Jahren als Verdächtiger im Mordfall eines kleinen Mädchens. Ted hat ein sehr schlechtes Namensgedächtnis. Er beurteilt Menschen auf zwei Arten – danach, wie sie Tiere behandeln und danach, was sie gerne essen. Falls ihr Lieblingsessen irgendeine Art von Salat ist, sind sie definitiv schlechte Menschen! Ted hat eine Katze – Olivia – und eine Tochter – Lauren – die ab und an zu Besuch kommt. Dann fährt Ted auf seinem rosafarbenen Fahrrad durchs Haus, und ruft die Namen von Hauptstädten. Lauren klingelt wenn er die richtige Antwort weiss. Habe ich Olivia schon vorgestellt – Teds Katze? Ein Biest von einer selbstherrlichen Katze, manches Mal aber auch Teds einzige Trösterin und Freundin.

Als Teds Haus in der Needless Street damals von der Polizei auf der Suche nach Spuren des verschwundenen Mädchens Lulu durchsucht wurde, war er eine Zeitlang das Gespräch im Ort. So Manche zeigte auf ihn, wechselten gar die Strassenseite oder drehten um, wenn sie ihn sahen. Einige Zeit traute Ted sich kaum aus dem Haus. Doch inzwischen ist Zeit vergangen, die Menschen haben verdrängt und vergessen.

Nur eine, Lulus große Schwester Dee, hat nicht vergessen. Als eine Frau in der Strasse plötzlich verschwindet, beobachtet Dee das Haus in dem der merkwürdige Mann lebt, von dem sie vermutet, dass er für das Verschwinden ihrer Schwester verantwortlich ist. Sie sucht nach Hinweisen, sie will endlich Klarheit, wissen, was damals und aktuell passiert ist – hätte sie doch die Sache auf sich beruhen lassen …

Zunächst kommt uns der Text, den die Autorin mit einem Ich-Erzähler angelegt hat, etwas merkwürdig daher. Die Sätze klingen nicht ganz richtig, Satzstellung, Wortwahl ja die ganze Klangmelodie wirken etwas unterentwickelt, ein klein wenig anders, als wir dies gewohnt sind.

Wer schon einmal näher mit geistig behinderten Menschen zu tun hatte, der wird unschwer deren Ausdrucksweise erkennen. Bei all ihren Handicaps versuchen sie doch immer, sich ihrem Gesprächspartner mitzuteilen, tragen ihr Herz buchstäblich auf der Zunge. Diese Menschen sind zumeist zutiefst ehrlich, haben ein Mitteilungsbedürfnis und verstellen sich dabei nie. Das ist für uns angepasste, ständig kontrollierte Menschen ungewohnt, manches Mal schockierend, denn falsche Rücksichtnahme, ein Abmildern der gegenwärtigen Gefühlslage ist diesen Menschen nicht möglich. Sie sind schlicht authentisch – und Ted, aber auch die Katze Olivia sind entsprechend angelegt. Das ist zunächst gewöhnungsbedürftig, aber auch interessant, ermöglich es uns doch einen ganz ungewohnten Einblick in das Leben und die Gefühlswelt eines unter dissoziativen Identitätsstörungen leidenden Menschen. Es sind Menschen, die verschiedene Identitäten in sich tragen, die oft Missbraucht wurden und versuchen, das Kind in ihnen zu schützen.

Wie aber passt dies alles zu dem vor Jahren verschwundenen Mädchen, wie zu Lauren oder zu der in der Jetztzeit verschwundenen Nachbarin? Nun, wenn sie dies erfahren möchte, würde ich die Lektüre dieses Romans anraten. Es erwartet sie eine wirklich ungewöhnliche Perspektive eines Menschen, der anders ist als die gewohnten Erzähler, der ehrlicher, direkter aber auch vielfältiger als das übliche Heldenmaterial ist. Ein Mensch voller Wunden, inneren Verletzungen, der trotzdem oder gerade deswegen versucht sein Leben in den Griff zu bekommen, sich selbst zu finden und treu zu bleiben. An manches Stellen ufert der Plot ein klein wenig aus, dennoch fasziniert die Lektüre macht uns mit einem Menschen bekannt, wie wir sie sonst gerne aus unserer Wirklichkeit ausblenden und beeindruckt durch dessen Mut und Ehrlichkeit.

Catriona Ward: Das letzte Haus in der Needless Street.
Aus dem Englischen übersetzt von Olaf Bentkämper.
Festa, Dezember 2021.
464 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Carsten Kuhr.

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