Für den Zilpzalp Zio ist die Geschichte der hundert Himmel zunächst nur eine Geschichte, die im Frühling für den Jungvogel ganz weit weg ist. Er lebt im Jetzt und begeistert sich jeden Tag für das frische Grün, die Knospen und Düfte der ersten Blumen. Seine Freunde Zack und Zett dagegen lieben das Wetteifern bei ihren Flugübungen, um herauszufinden, wer von ihnen am schnellsten ist. Die ersten Wochen im Frühling sind für Zio wie ein Rausch.
Er lernt so viel kennen und lieben und weiß nicht mehr, wie er sein Glück verarbeiten soll, bis ihm der Gedanke kommt, mehr als die Töne Zilp und Zalp zu flöten, die ihm und den seinen den Namen gegeben haben. Jetzt fällt Zio in der Vogelschar der Zilpzalps immer mehr auf. Statt wie die anderen zu fliegen und seine Künste mit anderen zu messen, verweilt er an seinen Lieblingsplätzen und betrachtet die Schönheit der Natur, um diese zu besingen. Und dann kommt der Tag, an dem er unwiderruflich zum Außenseiter geworden ist, einer mit dem die meisten nichts mehr zu tun haben wollen.
In der Literatur gibt es unzählige Beispiele, in denen Tiere und Insekten ihre Geschichte erzählen. Fabeln waren immer dann für die AutorInnen äußerst hilfreich, wenn sie die Obrigkeit kritisierten und trotzdem nicht im Netz der politischen Zensur hängen blieben.
Astrid Ruppert, bekannt durch ihre erfolgreichen Romane und Drehbücher, beschreibt in ihrer einfühlsamen Erzählung die Wunder und die Härten der Natur aus der Vogelperspektive. Dies wirkt insbesondere dann, wenn die Entfremdung zur Natur immer größer zu wird, Obst und Gemüse zu jeder Zeit erhältlich ist oder Rosen und Lilien im Winter gekauft werden.
Wie in einem wunderbaren Traum
Die Gesetze der Jahreszeiten erlebt Zio wie in einem wunderbaren Traum. Er kann sich noch nicht vorstellen, wie Bäume ohne Blätter aussehen, dass der Winter viel mehr bedeutet als ein minimales Nahrungsangebot, Hunger, Durst und Gefahren. Nach dem Gesetz der Zilpzalps muss er dies auch nicht wissen. Denn er ist Zugvogel und soll im Herbst durch einhundert Himmel fliegen.
Im Laufe seines ersten Vogeljahres lernt er von den Erfahrungen anderer Waldtiere. Was er ebenfalls lernt, sind die starren Regeln der Zilpzalps. Es sind ähnlich verbindliche Regeln wie der Wechsel der Jahreszeiten. In den Augen der Altvögel sind es lebenserhaltende Gesetze, die im Einklang mit einer größeren Ordnung stehen. Intuitiv hinterfragt Zio diese Regeln, um seinen Platz zu finden und was am wichtigsten ist, sich und seine Bedürfnisse nicht zu verleugnen.
Überleben und Evolution hat Astrid Ruppert auf eine charmante Weise begreifbar gemacht. Ihre Geschichte schenkt Mut und Trost zugleich.
Die zarten und geschmackvollen Illustrationen hat Sarah Katharina Heuzeroth angefertigt.
Astrid Ruppert: Hundert Himmel: Eine Erzählung über den Mut, anders zu sein
Mit Illustrationen von Sarah Heuzeroth
Diederichs, März 2023
144 Seiten, Hardcover, 18,00 Euro
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.