Aslı Erdoğan – Die Stadt mit der roten Pelerine (1998)

Ist ein Roman nur ein Roman? Muss das darin Erzählte echt und wahr sein?

Nach einer Autorenlesung ist häufig Zeit für ein Gespräch und Fragen. Abgesehen von der Stille zu Beginn, stellt häufig jemand aus dem Publikum die Frage nach dem biografischen Hintergrund? Ist es wahr, dass Protagonist und Autor im Grunde genommen eine Person sind, haben beide das Gleiche erlebt?

Im Roman reist Özgür, eine junge Türkin, allein nach Rio, um dort nur mit einem Koffer einen Neuanfang zu wagen. Leider will sie kaum jemand als Englischlehrerin engagieren. Die wenigen, die zusagen, haben eine völlig andere Vorstellung von Unterrichtsgestaltung oder verweigern einfach das vereinbarte Honorar. Sehr schnell verarmt Özgür. Mit der Zeit lernt sie das andere Gesicht von Rio kennen, ein Gesicht, das auf keiner Postkarte, keinem Plakat gut aussehen würde. Die Stadt der Ausschweifungen bietet dem nach seinem Glück Suchenden eher Drogen als ein Stück Brot. Hunger, Durst und Hitze machen aus der Hochburg des Karnevals und der Samba einen Dschungel, in dem man sich nur verlieren kann.

Rio ist für die Erzählerin die Stadt mit der roten Pelerine. Ein Schutzumhang in dieser Farbe kann sowohl für Liebe als auch Blut stehen. Denn beides passiert in Rio ständig. Menschen verlieren sich in der körperlichen Liebe oder geraten in die Schusslinie verschiedener Bandenkämpfe.

Asli Erdogan wurde 2016 in der Türkei verhaftet und lebt heute in Deutschland. Sie schreibt gegen Intoleranz und Gewalt. Regelmäßig veröffentlichte sie eine Kolumne für die pro-kurdische Zeitung Özgür Gündem. In einem am 19.08.2016 veröffentlichten Zeitungsartikel von Karin Krüger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erfährt der Leser einiges über Asli Erdogans Werdegang, die im Alter von 24 Jahren in Genf forschte. Die Physikerin beschloss in den 90-iger Jahren, hauptberuflich zu schreiben. Mit ihren Romanen und journalistischen Texten setzt sie sich mit der türkischen Gesellschaft auseinander. Sie floh für längere Zeit nach Südamerika und kehrte schließlich zurück. Nach wie vor prangert sie vieles an, unter anderem die Bedingungen in türkischen Gefängnissen, Folter, Gewalt gegen Frauen und die staatlichen Repressionen gegen Kurden. Persönlich hat sie gesellschaftliche Ausgrenzung, körperliche Gewalt und Inhaftierung erfahren. Dass sie mit Verstand und Seele schreibt, kann man auch in ihrem Roman über Rio spüren. Der Leser erfährt viel über das touristisch nicht erschlossene Rio. Auf drei Erzählebenen schreibt Asli Erdogan, was gerade mit Özgür passiert, in Rückblenden, was mit ihr geschehen ist und sehr poetisch Özgürs schriftstellerische Arbeit, die ihr Innenleben und ihre Reflexionen zeigen. Harmonisch sind alle drei Erzählstränge miteinander verbunden, so dass Seite für Seite die Geheimnisse und Ängste der Erzählerin gelüftet werden. Der innere Spannungsbogen dieser Erzählform hebt sich von den üblichen Erfahrungsberichten ab und macht den Roman zu einem Leseereignis, das unter die Haut geht, berührt aber auch herausfordert.

»… Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen … Ein Schriftsteller jedoch gesteht bei einer derartigen Einleitung von vorherein sein Scheitern ein. Denn … er … muss eine Auswahl treffen, selbst wenn er vorhätte, nur aus seiner eigenen Perspektive zu erzählen. … Er wird erkennen, dass sich durch die unterschiedliche Anordnung der immer gleichen Tatsachen völlig unterschiedliche Wahrheiten ergeben …« (S. 89)

Aslı Erdoğan: Die Stadt mit der roten Pelerine (1998).
Unionsverlag, Februar 2008.
218 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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