Es ist immer interessant, einen Roman zu lesen, dessen Autor Dozent für Kreatives Schreiben ist. Immerhin kennt er in der Theorie das Handwerkszeug, um spannende und packende Bücher zu schreiben. André Hille ist Gründer und Leiter der Textmanufaktur, eine seit mehr als 10 Jahren existierende, renommierte Schule für Kreatives Schreiben in Frankfurt. „Das Rauschen der Nacht“ ist nun sein Debütroman.
Er erzählt darin von Jonas und Birte und ihren zwei kleinen Kindern Sophie und Jeremias. Die Familie hat auf dem Land vor kurzem ein Haus gebaut und liegt seither im Streit mit mehreren Baufirmen über mangelhaften Putz und andere Mängel. Jonas hat zudem vor nicht allzu langer Zeit eine eigene Firma gegründet. Sein Partner Toni, der bislang reichlich Kapital in die Firma gesteckt hat, verweigert nun weitere Zahlungen und Jonas muss sich nach anderen Geldgebern umsehen, die seine Projekte finanzieren.
Dazu begibt er sich nach Berlin, um dort seine Projekte auf einer Veranstaltung zu präsentieren. Während dieser Vorstellung kommt er in Kontakt mit einem potentiellen neuen Partner, der jedoch von Jonas auch eigene finanzielle Risiken als Voraussetzung für seine Beteiligung verlangt. Das führt dazu, dass Jonas immer verzweifelter wird, denn die nötigen Geldbeträge hat er nicht, aufgrund des Hausbaus sind ihre finanziellen Ressourcen erschöpft. Jonas versucht vergeblich, bei der Bank, bei seinem Vater oder bei seinen Schwiegereltern Geld zu leihen, möglichst ohne dass seine Frau davon erfährt. Hinzu kommen familiäre Belastungen und Herausforderungen. Dazu gehört schließlich auch eine Affäre mit einer Kollegin, die er während seines Aufenthaltes in Berlin beginnt.
Mit all dem kommt Jonas nun nur sehr schwer zurecht, er hadert mit sich, mit der Familie, mit Birte. Er stellt sich selbst und alle seine bisherigen Werte in Frage, zweifelt, ob es richtig ist, dem geschäftlichen Erfolg alles andere unterzuordnen. Und manchmal erreicht er den Punkt, an dem er einfach nur noch schlafen möchte, um all dem zu entgehen.
Insbesondere die seelischen Qualen von Jonas schildert André Hille sehr einfühlsam und plastisch. Auch wenn es mir manches Mal schwer fällt, das richtige Mitleid mit dem Protagonisten aufzubringen, der mir doch reichlich sensibel und ichbezogen erscheint, so zeigt das nur, dass es dem Autor gelingt, seine Figur lebensecht und tiefgründig zu zeichnen. Die Entwicklung Jonas‘ vom selbstbewussten Erfolgsmenschen zum mutlosen, ja depressiven, sich als Versager fühlenden Mann, der unkalkulierbare Risiken eingeht, der impulsiv und selten klug handelt, diese Veränderung ist stringent dargestellt als Psychogramm eines an sich selbst Verzweifelnden. „Die ständige Konfrontation mit dem, was noch zu erledigen war, gab mir seit Jahren das Gefühl einer provisorischen Existenz. Ich lebte permanent im Zustand des Unfertigen, ich schleppte einen riesigen Rucksack aus unerledigten Aufgaben mit mir herum, der mich zunehmend niederdrückte.“ (S. 132)
Sehr gut gefallen haben mir auch die Szenen mit den beiden Kindern. Es wirkt, als spräche der Autor aus eigener Erfahrung, sind doch die Sprache der Kinder authentisch und das Verhalten plastisch und lebensnah erzählt, so dass man meint, sie zu hören und zu sehen. Dafür ein Gespür zu haben und das dann umsetzen zu können, ohne kitschig zu werden, das ist ein großes Talent.
Dennoch hat mich der Roman nicht hundertprozentig erreicht. Das liegt zum einen an der ausschließlichen Fokussierung auf den Protagonisten, die Emotionen und Motive der anderen Figuren bleiben im Dunkeln. Zum anderen an der doch teilweisen Überfrachtung mit Metaphern, Vergleichen und detailreichen Beschreibungen. André Hille findet wunderbare Bilder: „Die Zipfel der Jacke flatterten hinter ihr her wie rote Engelsflügel, die zu klein waren, um sie wirklich abheben zu lassen …“ (S. 79) oder „Der Herzschlag der Mutter, das Klappern der Eltern in der Küche an einem sonnigen Sonntagmorgen, die Straßenbahn, der Rasenmäher der Nachbarn, ein Hahn, der irgendwo kräht – war Heimat am Ende nichts anderes als eine Echokammer aus Geräuschen?“ (S.87). Aber leider ist es manchmal ein wenig zuviel des Guten. Und auch die Handlungsabläufe gehen manches Mal zu sehr ins Detail, so dass dadurch unnötige Längen entstehen.
Und hinzu kommt noch ein für den Lesegenuss wenig förderliches Formatierungsproblem. Der Autor – oder der Lektor – haben viel zu wenige Absätze im Text zugelassen. Das geht soweit, dass mancher Absatz über 3 oder 4 Seiten geht. Das lässt sich sehr schwer ertragen, gerade wenn innerhalb dieses Absatzes wenig geschieht, der Protagonist in Reminiszenzen versinkt und immer mehr vom aktuellen Geschehen abschweift. Absätze erleichtern den Lesefluss, damit sollte man nicht derart sparsam umgehen.
Abgesehen davon ist der Roman aber rundweg empfehlenswert, ist er doch ein sensibles Abbild eines selbstzerstörerischen Mannes auf der Suche nach den richtigen Prioritäten im Leben.
André Hille: Das Rauschen der Nacht.
Blessing, August 2020.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.