Ein marodes, abgeschiedenes Haus samt einem verwahrlosten Grundstück im Norden von Mecklenburg. Dazu Kinder, die weitestgehend auf sich allein gestellt sind und eine Mutter, die sich lieber um verlassene Tiere kümmert, anstatt um ihre Familie. Alles andere als eine heimelige Landidylle also und schon gar kein Ort und keine gute Basis für zwei Schwestern im Teenageralter.
Der Umzug in das verwahrloste Bauernhaus entwickelt sich für die Ich-Erzählerin Madeleine und ihre Schwester Ronja zu einer äußerst entbehrungsreichen Lebensstation. Den Mädchen bleibt keine Wahl. Sie müssen sich mit dieser Situation arrangieren, so gut es irgendwie geht. Einzig die Mutter scheint hier richtig angekommen zu sein. Für sie ist das Haus der Ort, an dem sie herrenlosen Tieren Zuflucht gewährt, ein Zuhause gibt. Dass sie dabei ihre eigenen Kinder vernachlässigt, tangiert sie wenig. Ihr Credo scheint zu sein, dass Verzicht üben in jeglicher Hinsicht zum Leben gehört.
Bemerkenswert stellt sich Madeleine der Situation in einem Zuhause, das keines ist. Ein Zuhause, in dem im doppelten Sinn keine Wärme zu finden ist. Weder bei der Mutter, noch inmitten der kalten Mauern. Viel zu früh müssen die Kinder Verantwortung übernehmen für sich, den heruntergekommenen Hof, die Tiere, die sie überhaupt nicht wollen und ab und an auch für die in eine völlig andere Welt abgetauchte Mutter.
Schon sich etwas Essbares aus dem Kühlschrank zu holen, ist ein abenteuerliches Unterfangen. Im Winter zieht Madeleine ihre Daunenjacke im Haus erst gar nicht aus, so kalt ist es. Die Hunde, mit denen die Kinder sich die Räumlichkeiten teilen müssen, fressen in unbeobachteten Momenten die Nudelteller leer und pinkeln unkontrolliert im Haus herum. Vor dem Haus grunzen die Wildschweine. Auf Futter wartend, verfolgen sie Madeleine bis zum Plumpsklo. Auf dem Dachboden vermehren sich die Mäuse, die eigentlich als Futter für eine Schleiereule, die die Mutter einmal aufgelesen hat, gedacht waren.
Kein Wunder, dass der Vater dieses Leben nicht lange mitmacht, sich relativ schnell aus seiner Verantwortung zieht und die Familie verlässt. Immerhin schafften die Eltern es, sich einige Zeit aus dem Weg zu gehen, bis der Vater schließlich ganz verschwindet. Die Mutter sieht dennoch keine Veranlassung, etwas zu verändern. Im Gegenteil – das Tierarsenal wächst bei all den Misslichkeiten beständig weiter an.
Das Leben in diesem Roman zeigt das Gegenteil einer heilen Welt auf. Fürsorge, Liebe und Geborgenheit existieren nicht. Solch eine Örtlichkeit möchte man am liebsten erst gar nicht kennenlernen und einen weiten Bogen darum machen. Aber die Geschichte fesselt und lässt beim Lesen nicht mehr los.
Wie Madeleine und ihre Schwester es schaffen, mit all den vielen Widrigkeiten zu leben, schildert Alina Herbing nachdrücklich und glaubhaft.
Alina Herbing wurde 1984 in Lübeck geboren und lebt heute in Berlin. Bereits ihr 2017 erschienenes Romandebüt „Niemand ist bei den Kälbern“ wurde vielfach beachtet und mit dem Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet.
Alina Herbing: Tiere, vor denen man Angst haben muss.
Arche, Februar 2024.
gebundene Ausgabe, 256 Seiten, 23,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.