Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn

„… In der Stadt der mittelmäßigen Architekten regnete es. … Es änderten sich die politischen, ökologischen und futtertechnischen Bedingungen. Die Vögel flogen fort. Ohne Visum und Stempel im Pass. Alle aufs Mal, nach vorheriger Absprache.“ (S. 115)

Als Jugendliche hatten Franzisk und seine Freunde noch über diverse Missstände ihre Witze gerissen. Sie fühlten sich jung, unverwundbar und genossen ihre Streiche. Kurz darauf geriet Franzisk in eine Massenpanik. 10 Jahre lang lag er im Koma. Wäre seine Großmutter nicht gewesen, hätten die Ärzte ihn für gehirntot erklärt und seine Organe verschachert.

Kurz nach dem Tod seiner Großmutter erwacht Franzisk aus seinem Koma. Alles scheint auf den ersten Blick wie früher zu sein. Nur die Bestrafungen für unerwünschtes Verhalten sind ihm neu. Für jeden seiner alten Witze würde er heute verhaftet werden. Das Belarus von heute nimmt Franzisk den Atem.

Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geboren, studierte Literatur und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber und Fernsehmoderator. Seinen zweiten politischen Roman hat Ruth Altenhofer aus dem Russischen übersetzt. Der ehemalige Sohn beschreibt sehr anschaulich, wie die strikte Ordnung in Belarus alles Leben erstickt, Menschen in den Selbstmord treibt und anders Denkende zerstört. Hierfür braucht die Regierung unzählige Polizisten, die auch ohne Eignung mehr verdienen als ein Bürger mit abgeschlossenem Studium. Vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Unterdrückung erzählt Sasha Filipenko die Geschichte von Belarus und insbesondere die von Franzisk mit einer entwaffnenden Logik, in der schwarzer Humor und Satire Hand in Hand gehen.

Franzisks Großmutter erzählt einer Krankenschwester, wie tatsächliche Ereignisse mit Wundern verknüpft seien. Sie glaube an Wunder und an Franzisks Aufwachen. Seit ihr Vater mit bloßen Händen eine zugemauerte Tür geöffnet hatte und sie auf diese Weise aus einem brennenden Haus rettete, glaubt sie an Wunder. Denn zur gleichen Zeit verbrannten alle anderen Gäste auf der „geschlossenen“ Weihnachtsfeier, weil Ordnungskräfte den Auftrag hatten, die schreienden Menschen hinter den abgesperrten Türen zu ignorieren und statt dessen Akten aus einem Archiv zu sichern.

Franzisk strampelt sich nach dem Wunder seiner Erweckung ab. Er hat das Gefühl, überall der Ehemalige zu sein. Er ist der ehemalige Nachbar, der ehemalige Bekannte und der ehemalige Sohn, denn sogar seine eigene Mutter hat ihn abgeschrieben. Auch sonst werden Menschen an den Rand gedrängt: „… Die ganze Stadt muss stehen, denn der Diener des Volkes kommt gefahren! Der Diener, dem wir, seine Arbeitgeber, partout nicht kündigen können.“ (S. 284) Und nach der Wahl mit zu erwartendem Ausgang haben die Menschen auf der Straße Angst. „Keine Erschießungen, Gott sei Dank, das würde niemand verstehen. Nein, die siegreiche Macht war viel gütiger, als sie immer dargestellt wurde. Nur ein paar Jahre Knast, außerdem für viele nur bedingt. Ein Traum, diese Gnade.“ (S. 283/284)

Sasha Filipenko kann man für seine Offenheit gar nicht genug danken. Er schreibt über Dinge, die sind und nicht sein dürfen.

Sasha Filipenko: Der ehemalige Sohn.
Aus dem Russischen übersetzt von Ruth Altenhofer.
Diogenes, März 2021.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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