Lucy Fricke: Töchter

Marthas Vater will zum Sterben in die Schweiz. Behauptet er zumindest. Doch weil er Blut spuckt, Windeln braucht und seine Schmerzen nur mit Morphium erträgt, kann er natürlich nicht mehr selbst fahren. Auch Martha setzt sich nicht mehr hinters Steuer, seit sie sich an einem Unfall die Schuld gibt, dessen Folgen einen Freund das Leben gekostet haben. Also muss Betty herhalten, seit zwanzig Jahren Marthas beste Freundin und gerne bereit, auf den Hilferuf hin von Rom aus nach Berlin zurück zu eilen. Ihr eigentliches Vorhaben, das Grab ihre Lieblingsvaters zu besuchen, kann noch warten, sie schiebt es sowieso schon seit zehn Jahren auf.

Die Väter sind ein besonderes Kapitel im Leben von Betty und Martha. Betty hat (mindestens) drei davon: den leiblichen, den bösen (der dafür gesorgt hat, dass sie sich für „alle Zukunft mit allerlei psychischen und sexuellen Defekten“ durchs Leben schlagen muss) und den guten, genannt „der Posaunist“, den sie liebt und vergöttert, selbst als er ihre Mutter verlässt, ohne sich von ihr zu verabschieden. Auf diese Weise hat auch er einen Beitrag zu ihrer psychischen Instabilität geleistet. Bei Martha ist es die Mutter, die auszieht und den Vater Kurt alleine lässt. Dreißig Jahre lang hat Martha fast keinen Kontakt zu ihm. Erst als er Witwer wird und der Krebs anfängt, seinen Körper zu zerstören, nähern sich die beiden langsam wieder an. „Kurz vorm Sterben noch nett zu werden, das ist doch eine Gemeinheit“, sagt sie über Kurt.

Martha und Betty, beide um die vierzig, gehen völlig unterschiedlich mit ihren seelischen Verletzungen um. Während Martha häuslich wird und verzweifelt versucht, eine Familie zu gründen, um alles besser zu machen, ist Betty meistens in der Welt unterwegs, um ihrem Schmerz zu entkommen und sucht sich immer die falschen Männer aus. Sie hat zunächst kein Interesse, etwas an ihrer Situation zu verändern: „Gesund, aufgeräumt, durchtherapiert. Damit will ich nichts zu tun haben.“ Dennoch verbindet die beiden eine unverbrüchliche Freundschaft, die auch nach längerer Trennung und vor allem in Krisen trägt, denn ihre Basis ist, „dass sie an die andere glaubten, wenn ihr die Kraft dafür abhandengekommen ist“.

So macht sich eine außergewöhnliche Fahrgemeinschaft in Kurts zwanzig Jahre altem Golf (der sein bester Freund ist) auf den Weg in Richtung Chur. Der Plan lautet: Zu dritt hin, zu zweit zurück. Und das Ganze möglichst schnell, denn Martha hält dem Druck kaum stand, die Verantwortung für ihren Vater zu tragen. Doch unterwegs ist plötzlich alles anders. Kurt lebt auf und wird zum Philosophen, der seine Sicht zum Thema Freundschaft und Glück, Leben und Sterben zum Besten gibt. Dann rückt er damit heraus, was er wirklich will.

Was folgt, ist eine Reise durch Italien und bis auf eine griechische Insel, während der Väter gefunden und verloren werden. Martha und Betty geraten in scheinbar absurde Situationen, die gleichzeitig wie aus dem Leben gegriffen sind. Am Ende haben beide ein Stückchen weiter zu sich selbst gefunden, haben manche ihrer Wunden begonnen zu heilen.

Kaum ein Buch hat mich in letzter Zeit so berührt wie Lucy Frickes Roman „Töchter“, der genau so gut „Väter“ heißen könnte. Denn es geht vor allem um die Beziehung zwischen Vätern und Töchtern, um das, was dabei schieflaufen und um das, was vielleicht wieder gut gemacht werden kann. Vieles davon ist leicht auf andere Beziehungen übertragbar. Lucy Fricke schafft es, ganz tief in die Seelen zu schauen, ohne ihre Figuren zu entblößen oder voyeuristisch zu scheinen. Obwohl (oder weil) jede ihre Macken und ihre Verletzungen hat, scheinen sie mir so sympathisch, dass ich sie am liebsten kennenlernen und manchmal auch in den Arm nehmen möchte.

Mit grimmigem Humor, bissiger Ironie, in rauem, aber auch zärtlichem Ton, mit eindrücklichen Bildern und klugen Gedanken hat Lucy Fricke eine Geschichte erschaffen, die lange in mir nachhallen wird und die ich nicht nur Töchtern und Vätern empfehlen möchte.

Lucy Fricke: Töchter.
Rowohlt, Februar 2018.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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