Ljudmila Ulitzkaja: Medea und ihre Kinder

Ein wunderschöne Familiensage, welche die komplizierten Verflechtungen osteuropäischer Geschichte greifbarer macht. Am Beispiel der Krim zeigt die russische Autorin, wie jahrhundertelang Vertreibung, Neuansiedlung und Völkervermischung zu einem multikulturellen Konglomerat verschiedenster Nationen und Religionen geführt hat. Mittendrin die Hauptfigur, gleichzeitig das Herzstück der Geschichte: die im Jahr 1900 geborene Medea Sinopli. Sie hat griechische Wurzeln. Neben den Griechen gehörten auch die Esten, Deutschen, Genuesen sowie die Krimtataren zu den ursprünglichen Bewohnern der Halbinsel. Bevor diese vertrieben und durch Bewohner aus Zentralrussland ersetzt wurden. Ihre riesige Patchwork-Familie verkörpert Zusammenhalt und Weltoffenheit. Probleme gibt es wie in jeder Familie zuhauf. Von Selbstfindungskrisen über Eifersucht bis hin zu Untreue und persönlichen Schicksalsschlägen. Doch sind diese stets menschlicher Natur und haben nichts mit Politik oder Religion zu tun. Dies macht die Prosa der vielfach ausgezeichneten Autorin zum Mahnmal und Hoffnungsträger zugleich.

„Den besten Ausblick der Welt hatte man von Medeas Abort.“ (S. 27) Daneben hat Medeas Datscha auf der Krim noch einiges mehr zu bieten. Kein Wunder, dass ab April Medeas weit ihre verzweigte Verwandtschaft bei ihr einfällt, um dort nacheinander die Sommerferien zu verbringen. Medea, deren Ehe mit einem jüdischen Arzt kinderlos geblieben war, heißt ihre Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten herzlich willkommen. Seit dem frühen Tod der Eltern war die 13-köpfige Kinderschar auf sich allein gestellt. Auch Medea hat bereits in jungen Jahren die Erziehung ihrer jüngeren Geschwister übernommen. Wie ein Fels in der Brandung, robust, agil und mit scharfer Beobachtungsgabe durchschaut sie Begierden, verborgene Sehnsüchte, Eifersüchteleien und Träume ihrer Gäste. Bis sie eines Tages herausfindet, dass eine ihr nahestehende Person ihr Vertrauen missbraucht hat. Kann Medea diesen Verrat verzeihen?

Kapitel für Kapitel begleiten wir die einzelnen Lebensstränge des Familienclans. Da ist die freizügige Schwester, der Ehemann „der sich vor seiner ewigen Angst hinter ihrem Mut versteckte“ (S. 228), da sind zwei Großnichten, die sich in denselben Mann verlieben, der Neffe, der auf Tonbandgeräten Medeas Familienerinnerungen aufnehmen will auf der Suche nach seiner eigenen Geschichte. Es wird geliebt, gelacht, gehasst, diskutiert und sich wieder versöhnt. Freud und Leid liegen eng beieinander. Nicht für jeden ist ein Happy End vorgesehen.

Auch Medeas misstrauisches Verhältnis zu Obrigkeiten wird nicht ausgespart. Das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine im Blick behaltend, zeigt manche Szene, dass sich das Rad der Geschichte in immergleichen Schleifen dreht. Die Vernichtung mit allem, was für ein Volk identitätsstiftend ist, von der Sprache bis hin zu landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Zum Beispiel bei der Vertreibung der ursprünglichen Krimbewohner nach dem Zweiten Weltkrieg auch die alten tatarischen Weinstöcke und Nusshaine gerodet. „… die Tölpel kamem und hackten die wundervollen Bäume um, nicht einmal abgeerntet durften sie werden. So lagen die erschlagenen Bäume, die Äste voller halbreifer Früchte am Wegesrand. Dann kam der Befehl, sie zu verbrennen. (…) wir haben dagesessen und geweint angesichts dieses barbarischen Feuers.“ (S 20). Es gibt viele Szenen wie diese, welche uns WesteuropäerInnen die geschichtlichen Zusammenhänge am östlichsten Rand des Kontinents besser verstehen lassen.

Umso schöner ist es, dass die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja diese auf wahren Begebenheiten beruhende Familiengeschichte – ihr eigener Ehemann ist Teil des weit verzweigten Sinopli-Stammbaums – voller Hoffnung und Zuversicht erzählt. Gewiss, der Roman stammt ursprünglich aus dem Jahr 1996, lange vor der Krim-Annexion und dem Ukraine-Krieg. Doch zwischen den Jahrzehnten und Jahrhunderten befinden sich Krieg und Frieden im ständigen Wechsel. Die Hoffnung allerdings bleibt. „Die Ordnung der Welt blieb, trotz der wachsenden Zahl von Menschen und der zunehmenden Verwirrung die gleiche, ihr vertraute – es geschahen kleine Wunder, Menschen begegneten sich und gingen auseinander, und alles zusammen bildete ein schönes Muster.“ (S. 249)

Worte wie diese – ein Balsam für die Seele. Ljudmila Ulitzkaja zeigt die Krim als weltoffene Region, in der seit Jahrhunderten unterschiedlichste Religionen und Kulturen nebeneinander existieren. Oder es zumindest könnten, wenn man sie lässt. Die Ansichten der Putinkritikerin und Friedensaktivistin werden nicht überall gern gelesen. Im März 2022 emigrierte die Autorin von Moskau nach Berlin.

Fazit: Eine Familiensaga als belletristisches, ergreifendes Stück Zeitgeschichte, die Westeuropäern die Verwicklungen der Vielvölkerinsel Krim auf anschauliche und persönliche Weise näherbringt. Schön, dass der dtv-Verlag dieses Buch zur genau richtigen Zeit wieder aufgelegt hat!

Ljudmila Ulitzkaja: Medea und ihre Kinder.
Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt.
dtv, Oktober 2022.
368 Seiten, Taschenbuch, 14,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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