Wer sich mit den prägnanten Bildern von Heinrich Zille beschäftigt, bekommt einen plastischen Eindruck vom Leben des einfachen Volkes in der Reichshauptstadt Berlin. Es war eine Zeit, in der Arme die feuchten Neubauten der Reichen trocken wohnten. Erkrankungen waren in den nasskalten Räumen vorprogrammiert, erst recht, wenn man hungerte. Deshalb schickten spendable Bürger die ärmsten Kinder regelmäßig in Erholungsheime, wo diese – weg von schlechten Einflüssen – sich satt essen und genesen konnten.
Der Journalist Hugo von Kupffer, 1853 in Sankt Petersburg geboren, arbeitete von 1875 bis 1878 in verschiedenen New Yorker Nachrichtenagenturen. Ab 1883 führte er zusammen mit dem Verleger August Scherl den Berliner Lokal-Anzeiger, in dem er moderne amerikanische Pressestandards einführte. Über 45 Jahre lang war er Chefredakteur des erfolgreichen Massenblattes und starb 1928.
Wenn der Journalist durch die Stadt streifte, interessierte er sich für den Menschen, seine Lebensweise und sein Schicksal. Er gewann durch seine Interviews und Besichtigungen ein Bild, das er unterhaltsam in Reportagen kleidete. Missverständnisse und Vorurteile wollte er mit seinen Berichten beseitigen und gleichzeitig aufklären.
Liest man heute seine Texte, stolpert man zunächst über nicht mehr so gebräuchliche Redewendungen wie das Lüften des Schleiers oder die ungewohnte Orthographie, in der noch viele t’s mit einem h vereint sind. Auch die längeren Satzstrukturen spiegeln eine Bildung wider, die für den Journalisten und seine Leser sprechen. Irgendwann stellt sich pures Lesevergnügen ein, insbesondere wenn ungewöhnliche Themen behandelt werden wie zum Beispiel der Besuch beim Berliner Scharfrichter in seinen privaten Räumen oder bei dessen Arbeit im Gefängnis, wenn dieser einen Delinquenten um einen Kopf kürzte. Das Moabiter Gefängnis hat ihn ebenfalls fasziniert. Hugo von Kupffer besuchte Gerichtsverhandlungen, analysierte sensationsgierige Besucher, die schneller urteilten als der Richter und seine Schöffen, ließ sich in den Keller führen, wo unbekannte Tote zur Besichtigung freigegeben ruhten oder ging zu den Zellen, wo er auf persönlichen Wunsch, drei Stunden einsperrt, gesiebte Luft atmete. Vor 140 Jahren galt die Isolation der Inhaftierten als ein vielversprechender Ansatz, um die Kriminalisierung zwischen den Häftlingen zu unterbinden. Mit Masken unkenntlich gemacht gingen die Eingekerkerten zum Gottesdienst. Die konsequente Isolation zog sich bis in den kleinsten Bereich des Gefängnisaufenthaltes. Was mit der Psyche der Insassen geschah, beschrieb er in ihrem verstörten Verhalten und den gebrochenen Blicken.
Ein Steckenpferd des Reporters waren sicherlich Schilder und Beschriftungen, die vor Fehler strotzten und eine unfreiwillige Komik zum besten gaben.
Hugo von Kupffers Reportagen stecken ähnlich wie die Glanzleistungen bildungsferner Schildermaler und ihrer Auftraggeber voller Überraschungen. Sie erlauben nicht nur einen Einblick in damalige Ansichten sondern auch ein Verständnis für den Verlauf einer gesellschaftlichen Entwicklung.
Hugo von Kupffer: Reporterstreifzüge: Die ersten modernen Reportagen aus Berlin (1886).
Lilienfeld Verlag, Juli 2019.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.