Christiane Tramnitz: Das Dorf und der Tod

Eine True-Crime-Story aus Oberbayern, deren unheilvolle Wurzeln bis ins Jahr 1921 zurückreichen. Nicht erst seit Romanen wie „Das finstere Tal“ von Thomas Willmann wissen wir, dass es im abgeschiedenen Mikrokosmos der Bergwelten um die Frauenrechte meist nicht zum Besten stand. Mein Körper gehört mir? Fehlanzeige. Diese bittere Erfahrung muss auch die achtzehnjährige Dorfschönheit Vroni machen, die von „Hallodri“ und Revolutionär Lorenz kurz nach dem Ersten Weltkrieg schwanger wird. Um einen Skandal zu vermeiden, greifen ihre Eltern zu drastischen Maßnahmen. Die böse Saat des Verderbens ist gesät. Doch sie reift erst Generationen später zu den Früchten des Zorns heran und entlädt sich im Jahr 1995 in einer ungeheuerlichen Tat. Autorin Christiane Tramnitz ist selbst in diesem bayerischen Dorf aufgewachsen und rollt den Fall aus verschiedenen Perspektiven auf, wobei ihr ihre Erfahrungen als promovierte Verhaltensforscherin zugutekommen. Das Resultat ist kein Krimi im eigentlichen Sinn. Sondern eine spannende Universalgeschichte, die der Gesellschaft zwischen zwei Weltkriegen den Spiegel vorhält. Denn auch außerhalb von Vronis persönlichem Unglück wimmelt es von Tragödien. Die Verlierer des ersten Weltkrieges – arme, von den „Judenbanken“ ausgeblutete Bauern – werden zu radikalen Vorreitern der NSDAP. Helfer, Mitläufer, Geflüchtete, Widerständler, Opfer und Täter kristallisieren sich immer mehr im Verlauf des Plots heraus. Von klein an zu Gehorsam erzogen, von Eltern und Kirche der eigenen Stimme beraubt, wächst eine Generation heran, die nicht gelernt hat, für eigene oder die Rechte anderer einzutreten.

Um sich der zentralen Frage „Wie konnte das passieren?“ anzunähern, springt die Autorin gekonnt zwischen verschiedenen Perspektiven. Erstens die erzählende Ebene, einmal aus Sicht von Vroni, einmal aus Sicht des jungen Simon Weber, alias Simmerl, der im Dorfladen eine Ausbildung macht. Zweites: die Abschiedsbriefe des Mörders. Drittens: der gealterte, fast neunzigjährigen Simon, der nach Jahrzehnten ins „goldene Dorf“ zurückkehrt, um die Ereignisse aus heutiger Sicht zu kommentieren. Fazit: „Wir haben alle dazu beigetragen, dass es so gekommen ist, weil wir dachten, die Geschichte sei Schicksal gewesen.“ (S. 284)

Was der Autorin ebenfalls hoch anzurechnen ist – sie berichtet ausgewogen. Und sie zeigt, wie sich Ansichten im Laufe der Zeit ändern können, von der Verklärung bis hin zur brutalen Konfrontation. Da ist zum Beispiel der Charakter der Vroni. Von der Mutter als stolz, stur und wild bezeichnet, glaubt die junge Vroni noch daran, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Nachdem sie zur „Dirne“ gefallen ist, wird ihr Wille gebrochen – der Kindsvater verjagt, der Sohn ihr entrissen und Vroni zur Ehe mit einem wesentlich älteren, verkrüppelten Bauern gezwungen. Äußerlich stark, bringt sie acht weitere Kinder zur Welt, verhilft ihrer Familie zu einem gewissen Reichtum. Doch innerlich ist sie leer, kann die Kinder des „falschen Mannes“ nicht lieben. In den Augen des Enkels wird sie jedoch idealisiert. Sie hat ihr Schicksal ertragen, sie wurde durch dieselben Einflüsse zum Opfer gemacht, die auch ihn zum Opfer gemacht haben.

Die Dorfgemeinschaft vor der ebenso idyllischen wie brutalen Bergwelt verlangt Anpassung, um zu funktionieren. Jeder soll die ihm zugewiesene Rolle erfüllen, sich an die Regeln von Gott, den Eltern, den politischen Entscheidungsträger halten. Dafür hält die Gemeinschaft zusammen. Man darf im Dorfladen anschreiben, steckt sich gegenseitig Vorräte und Gelegenheitsjobs zu. Brigitte, eine Altersgenossin Vronis, bringt ebenfalls ein uneheliches Kind zur Welt. Sie zieht es in der Anonymität der Stadt auf. Die Türen der Nachbarn sind verschlossen, dafür kann sie ihr Kind behalten, einen eigenen Beruf wählen.

Auch Simons hochbetagter Blick schwankt. Das „goldene Dorf“, mittlerweile von der landwirtschaftlichen Gemeinde zum Touristenort geworden, scheint ihm „als habe der Ort kein Gesicht, keine Seele mehr, sondern trüge eine Maske, in makelloser Schönheit erstarrt.“ (S. 8) Die Bänke mit den Alten sind leer, auf den Straßen spielen keine Kinder mehr, Vieh und Misthaufen sind verschwunden. Die Buche hat japanischem Ahorn Platz gemacht. Wehmut nach der guten alten Zeit? Auch dies nicht. „Und so haben wir nicht geredet, wir haben unsere Gefühle und Wünsche, unsere Ängste aber auch das Begehren in unserer Seele versteckt und dort erstickt.“ (S. 284)

Mochte die Dorfgemeinschaft in sich selbst ruhend funktionieren, so stieß sie an ihre Grenzen, wenn Gefahr von außen drohte. Statt mutig gegen Unrecht aufzubegehren, duckt man sich lieber weg. Verdeutlicht wird dies an einer der faszinierendsten Figuren des Buches. Alois Trachsler ist der „König“ des Dorfes. Ein „Hexer“, der Warzen wegsprechen kann, Kräuterelixiere herstellt und diese zur Stimmungsaufhellung auch mal unters Weihwasser mischt. Trotz seines wunderlichen Auftretens ist er einer der wenigen Weisen des Dorfes, da er mit dem Herzen sieht. Ihm entgeht nicht, was unter der korsettartigen Oberfläche brodelt. Von den Bewohnern als liebenswürdiger Spinner respektiert, verhindert doch niemand den Abtransport des „Irren“ durch die Nazis. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Also wegducken und weitermachen.

Fazit: Ein faszinierendes Buch, bei dem die eigentliche Kriminalgeschichte in den Hintergrund rückt. Es ist ein psychologischer Zeitraffer über „vererbte Traumata“, über den Preis verschiedener Lebensentwürfe und Frauenbilder, persönlichem Schicksal und Kollektivschuld. All dies vor beeindruckender Alpenkulisse, die sich mal in schönstem Postkartenidyll, mal als lebensfeindliche Umgebung präsentiert.

Christiane Tramnitz: Das Dorf und der Tod.
Ludwig Buchverlag, September 2021.
288 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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