Anna Enquist: Denn es will Abend werden

Die niederländische Schriftstellerin Anna Enquist (Jahrgang 1945) ist Pianistin und Psychoanalytikerin. Sie lebt und arbeitet in Amsterdam. 2015 veröffentlichte der Luchterhand Literaturverlag die deutsche Erstausgabe ihres Romans „Streichquartett“, in dem es um vier Freunde geht, die zusammen in ihrer Freizeit auf einem Hausboot musizieren und versuchen, ihren Alltag zu meistern. Am Ende des Romans werden sie zu Opfern einer Gewalttat. Enquists neuer Roman „Denn es will Abend werden“ knüpft an das „Streichquartett“ an. „Denn es will Abend werden“ ist am 24. Juni 2019 in einer Übersetzung von Hanni Ehlers im Luchterhand Literaturverlag erschienen.

Carolien, Jochem, Heleen und Hugo, die vier Freunde aus dem „Streichquartett“, haben mit den Folgen des Überfalls mit Geiselnahme (Hugos kleine Tochter Laura sollte als Geisel dienen)  und der Explosion von Hugos Hausboot zu kämpfen. Sie haben ihre Instrumente verloren und ihre Freundschaft droht zu zerfallen. Carolien, die Ärztin, hat ihren kleinen Finger bei der Gewalttat durch den aus dem Gefängnis entflohenen Olivier Helleberg verloren. Sie kann oder will weder wieder Cello spielen noch als Hausärztin arbeiten. Ihr Mann Jochem, der Instrumentenbauer, verschanzt sich in seiner Werkstatt und pflegt seine Wut. Heleen, die Krankenschwester, hat ihr Leben verändert. Sie ist dünn geworden, hat sich die Haare abgeschnitten und rot gefärbt. Heleen arbeitet in einem Fitness-Studio und quält sich mit ihren Schuldgefühlen. Schließlich war sie es, die mit dem Gefangenen Helleberg Briefe schrieb und ihm über das Streichquartett mit ihren Freunden detailliert berichtet hatte.  Hugo, der Kulturmanager, hat sich nach Shanghai abgesetzt. Dort flüchtet er sich in Arbeit.

Caroliens alter Cellolehrer Reinier van Aalst, bei dem Helleberg auf seiner Flucht vor der Polizei Unterschlupf suchte, liegt im Koma.

Das fragile Gebilde ihrer Freundschaft wankt. Jede und jeder versucht, auf ihre bzw. seine Art mit dem Geschehen fertig zu werden. Carolien und Jochem, deren Beziehung durch den Unfalltod ihrer beiden Söhne schon auseinander zu brechen droht, driften immer weiter auseinander. Jochem zieht in seine neue Werkstatt und lässt Carolien in ihrem Haus, das er zu einem „Hochsicherheitsgefängnis“ aufgerüstet hat, allein. Heleen vermeidet jeden Kontakt mit den Freunden und will nur noch an die Zukunft denken. Hugo agiert hyperaktiv in seinen Shanghaier Projekten und kümmert sich nicht um seine ebenfalls traumatisierte kleine Tochter Laura. Nach dem Tod von Reinier, ihrem Cellolehrer, bricht Carolien nach Shanghai auf und macht dort Erfahrungen, die sie verändern und ihr eine Perspektive für die Zukunft bieten.

Der Prozess um den Verbrecher Helleberg bringt die Freunde wieder zusammen und Carolien stellt zum Schluss fest: „Es ist vollbracht. Es ist gut.“

Wie schon in „Streichquartett“ ist Anna Enquists musikalische und psychoanalytische Expertise auch in „Denn es will Abend werden“ unverkennbar. Sie durchdringt ihre Charaktere, fühlt ihnen schmerzhaft auf die Zähne und lässt sie sehnsüchtig der Musik und ihrem gemeinsamen Musizieren nachtrauern. Der Titel des Romans ist einer Kantate von Johann Sebastian Bach aus dem Jahre 1725 nach einem Bibelvers entlehnt („Bleib bei uns, denn es will Abend werden“). Als Leserin folge ich ihr in die irrationalen, seelischen Abgründe, in die Qualen und das Leid ihrer Figuren. „Denn es will Abend werden“ kreist um die Frage: Wie reagieren Menschen, die Tod und Gewalt erfahren, auf die von ihnen erlebte Ohnmacht, Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein?

„Kein Hunger, kein Durst. Sie weiß nicht, ob ihr warm oder kalt ist, die Nacht verrinnt, ein neuer Tag wird kommen. Gegen Morgen kriecht sie ins Bett und versteckt sich unter der Decke.“ (S. 182)

Enquists Psychogramme führen von einer schier ausweglosen, tiefen Verzweiflung zu einer winzigen Hoffnung. Und ihre heilenden Kräfte sind die Musik und die Freundschaft. Das alles kommt in „Denn es will Abend werden“ nicht als verquaste Seelenklempnerei daher, sondern als überaus spannende, menschliche Geschichte, die ich nicht aus der Hand legen mochte. Was und wie Anna Enquist die Geschichte von Carolien, Jochem, Heleen und Hugo erzählt, trifft ins Herz. Und sie ist bei allem Unglück letzten Endes zutiefst tröstlich. Aber lesen Sie selbst…

Anna Enquist: Denn es will Abend werden.
Luchterhand Literaturverlag, Juni 2019.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.

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