Ann Patchett: Das Holländerhaus

„Es war einzig und allein die Geschichte meiner Schwester, die ich erzählen wollte, …“ (S. 384) sagt der Ich-Erzähler gegen Ende des Buchs. Und sie ist wunderbar erzählt, diese Geschichte, die auch die Geschichte eines Hauses und einer ganzen Familie ist.

Ann Patchett ist eine mit vielen Preisen ausgezeichnete amerikanische Autorin, die mit dem 2019 in den USA erschienenen Roman ein neues hochgelobtes Buch vorlegte. Die Übersetzung übernahm Ulrike Thiesmeyer.

Die nicht unbedingt chronologisch erzählte Geschichte der Familie Conroy, berichtet aus der Perspektive des Sohnes Danny, fesselt von der ersten bis zur letzten Seite. Wie ein roter Faden zieht sich durch den Roman die stete Rückkehr der Kinder der Familie, Danny und seine sieben Jahre ältere Schwester Maeve, an den Ort ihrer Kindheit, eben das titelgebende Holländerhaus. Sie gehen nicht hinein, sondern bleiben stets am Straßenrand vor dem Haus im Auto sitzen, unterhalten sich, blicken zurück, analysieren dabei offen und schonungslos ihr eigenes Verhalten und rauchen unzählige Zigaretten.

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Cyril Conroy ist verletzt zurückgekehrt, erwirbt er, als Überraschung für seine junge Frau, besagtes Haus in Philadelphia, in einer zu dieser Zeit noch weitestgehend unbewohnten Gegend. Das Haus war von einem kinderlosen holländischen Ehepaar erbaut worden und alle Hinterlassenschaften der Vorbesitzer sind im Haus verblieben. Porträts der Eheleute, französische Sessel, ungelesene Folianten und vieles mehr. Maeve, die Tochter der Conroys, ist zum Zeitpunkt des Einzugs ins Holländerhaus fünf Jahre alt, Danny noch nicht geboren.

Cyrils Frau fühlt sich in dem Haus nicht wohl, sie verschwindet immer wieder für immer längere Perioden und irgendwann, Danny ist da etwa vier Jahre alt, geht sie und kommt nicht mehr wieder. Maeve übernimmt Mutterstelle für ihren kleinen Bruder, die Beziehung der Geschwister wird inniger und unlösbarer. Dann, eines Tages, heiratet der Vater wieder, eine Frau mit zwei kleinen Töchtern, die, ganz wie die böse Stiefmutter im Märchen, die Kinder aus der ersten Ehe ihres Mannes immer mehr verdrängt. Das gipfelt nach dem Tod Cyrils darin, dass sie die Beiden aus dem Haus wirft. Sie hat wohlweislich dafür gesorgt, dass sie die Alleinerbin ist, von Haus und Firma und Vermögen.

Und wieder ist es Maeve, die für Danny sorgt, die alles organisiert und plant, seine Schullaufbahn ebenso wie seine Berufsausbildung. Sie drängt Danny zu einem Medizinstudium, getrieben von ihrer Wut und ihrem Hass auf Andrea, der Frau ihres verstorbenen Vaters. Danny jedoch entdeckt in sich die gleiche Leidenschaft für Immoblien, die auch schon seinen Vater reich gemacht hat.

Meine Zusammenfassung der Handlung kann dem Roman gar nicht gerecht werden. Denn sie vermittelt nicht, wie wunderbar er geschrieben ist, wie unglaublich nah die Autorin an ihre Figuren heranzoomt und mit welch großem Weitwinkel sie gleichzeitig auf sie schaut. Wieviel Empathie und Verständnis für die Natur der Menschen sie hat. Sie urteilt und verurteilt nicht, sie beobachtet, ohne zu werten. Wenn zum Beispiel Danny damit hadert, dass es so vieles gibt, dass er seinen Vater nie gefragt hat, wenn er verzweifelt, weil er so vieles über seinen Vater und seine Mutter nie wusste. Dabei erzählt Ann Patchett diese teilweise abstruse Familiengeschichte ohne jedes Pathos, ohne moralisierend erhobenen Zeigefinger, dafür mit einer gewissen Lakonie und auch durchaus mit einem Augenzwinkern.

Und immer wieder die Szenen im Auto, wenn Maeve und Danny klarsichtig erkennen, dass dieses ständige Zurückkehren zu einem verlorenen Haus schon ein wenig krankhaft ist. Ihre Gespräche, die ihre große Liebe zueinander so deutlich zeigen, all das fasst die Autorin in herbe, klare Worte, die das Wichtigste zwischen den Zeilen ausdrücken.

„Dann und wann im Leben springt man hoch, und die Vergangenheit, auf der man bisher gestanden hat, bricht hinter einem weg, und die Zukunft, auf der man landen möchte, ist noch nicht vorhanden, und dann hängt man einen Moment in der Luft, weiß nichts und kennt niemanden, nicht mal sich selbst.“ (S. 147).

Ohne dass man es merkt, schließt man Maeve und Danny im Laufe ihres Lebens, trotz mancher Marotte und mancher Fehler, immer mehr ins Herz. Und das gilt gleichermaßen für die anderen Figuren des Romans, wie das Kindermädchen, die Köchin und die Haushälterin der Conroys oder Mr. Otterson, Maeves Arbeitgeber.

„Das Holländerhaus“ ist ein Buch, von dem man beim Lesen wünscht, dass es nicht endet. Ein Roman, der lange nachwirkt.

Absolute Leseempfehlung!

Ann Patchett: Das Holländerhaus.
Berlin Verlag, Juni 2020.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.

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2 Kommentare zu “Ann Patchett: Das Holländerhaus

    • Hallo Mikka,
      freut mich, dass dich meine Rezension zum Lesen dieses Buches animiert. Ich kann es wirklich nur empfehlen, das einzige Manko ist, dass es irgendwann zu Ende ist…
      Viele Grüße
      Renate

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