Yishai Sarid: Monster

Yishai Sarid hat einen Protagonisten erschaffen, der im Holocaust eine ganz andere Opferrolle einnimmt. Mit ihm zeigt er einen neuen Blick auf den Umgang mit der Erinnerung auf: In einem Bericht an seinen ehemaligen Chef versucht ein junger Familienvater einen Eklat, den er ausgelöst hat, zu erklären.

Für seine Doktorarbeit beschäftigte der junge Israeli sich mit den Vernichtungsmethoden in den verschiedenen Konzentrationslagern. Später fährt er nach Polen, um die Gedenkstätten, über die er tausende von Seiten gelesen hat, zu besuchen. Durch seine umfassenden Kenntnisse ist ihm dort bereits alles so vertraut, dass er sich nach eigenen Angaben gar wie zu Hause fühlt. Hier kann er die Schreckensszenarien in allen Einzelheiten noch einmal aufleben lassen. Nachdem er immer häufiger als Guide für Gruppenführungen in den Vernichtungslagern angefragt wird, bleibt er monatelang in Polen. Mit dem dort verdienten Geld kann er sich selbst und seine Familie in Israel ernähren.

In seinem Bericht klagt er die Oberflächlichkeit der Menschen in den Gruppen an, die seiner Meinung nach nicht angemessen mit der Erinnerung an den Holocaust umgehen. Er selbst, der sich akribisch mit der Geschichte befasst hat und in den Gräueln der Vernichtungslager seine Erfüllung findet, klammert mittlerweile die Gegenwart aus und lebt nur noch für und im Schrecken der Vergangenheit. Wie sehr er dabei sein Leben und das seiner Frau und des kleinen Sohnes in Israel vernachlässigt, bemerkt er gar nicht. Die Leiden der einstigen KZ-Bewohner sind zu seinem persönlichen Leiden geworden. Das Monster der Erinnerung vereinnahmt ihn so stark, dass er den Besuchern die Schreckenstaten in den Lagern in so detaillierten Darlegungen  vermittelt, dass sie immer verstörender aufgenommen werden. Dass der Besuch einer KZ-Gedenkstätte für die Gruppen lediglich ein Ausflug in die Vergangenheit zu sein scheint, verkraftet der Guide immer schlechter. Er vermisst wahres Verständnis und Mitgefühl für die Opfer. Hinter Ritualen, die verschiedene Jugendgruppen während ihres Besuchs pflegen, glaubt er ganz andere Emotionen wahrzunehmen. Aus Gesprächen hört er heraus, dass den jungen Leuten die aktuelle politische Lage Israels näher ist als die Erinnerungskultur. Zudem fällt ihm auf, dass die Besuchergruppen alle dieselbe Mimik von Betroffenheit aufsetzen. Letztlich, resümiert er, wollen alle aus ihrem Besuch nur einen persönlichen Nutzen ziehen.

Erst bei einem Regisseur, der einen Dokumentarfilm drehen will, hat er während der Führung das Gefühl, jemandem das Grauen zu zeigen, der es wirklich kennenlernen möchte. Doch der Regisseur lenkt das Geschehen für seinen Dokumentarfilm nach seinen Vorstellungen und führt den Berichtschreiber im doppelten Sinn als  Opfer vor. Die Situation eskaliert.

Wahrscheinlich kann nur ein Israeli es wagen, an Tabus der Erinnerungskultur zu rütteln, sie zu hinterfragen und eine andere Sicht zuzulassen. Klar wird, die Israelis von heute sind nicht mehr die einstigen verfolgten Juden von damals. Moral, Doppelmoral, Opfer und Opferrollen, Scheinheiligkeit, Glorifizierung, Manipulation, werden neu beleuchtet.

Yishai Sarid: Monster.
Kein & Aber, Februar 2019.
400 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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