Wil McCarthy: Zeitflut

Fernab der großen Firmen und der Elite-Universitäten haben sie eine bahnbrechende Erfindung gemach, die ihnen, einmal bekannt gemacht, garantiert den Nobel-Preis einbringen wird. Die Rede ist von Harv Leonel und Tara Mukherjee, die an einem kleinen College forschen. Wir lernen sie kennen, als sie ihre hoch theoretischen Studien das erste Mal in der Praxis testen wollen. Unser Ingenieur Harv hat ein ganz ungewöhnliches Interesse am menschlichen Genom entwickelt – und hofft, dass aus dem „Quantom“, wie er die DNA-Erbinformation nennt, Umweltinformationen aus unserer Vergangenheit zugänglich gemacht werden können. Für wissenschaftliche Banausen – im Grunde genommen, will er im Geist eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen.

Und wirklich, ihre Erfindung funktioniert und führt unseren Forscher in die tiefste, unbekannte Historie unseres Planeten. Seine erste Geistreise führt ihn dabei rund 12.000 Jahre in die Vergangenheit. Im Körper und mit sämtlichem Wissen und Empfinden seines Gastgebers ausgestattet wacht er, als wohlhabender Seehändler einer uns unbekannten Hochkultur, auf. Er lebt das Leben dieses Mannes bis zu dem Tag, als eine Katastrophe die Zweistromregion seiner Heimat heimsucht. Einmal künstlich angestoßen setzen seine Quantonen auch ohne maschinelle Unterstützung weiteren Erinnerungen frei. Seine DNA führt ihn in die Zeit der Cro-Magnons ins Tal von Nog La, dann noch weiter in die Erdgeschichte zurück, wobei der Autor hier .aktuelle Forschungsergebnisse und Spekulationen aufgreift und in seine Handlung einbaut.

McCarthy macht das nicht ungeschickt. Satt unsere Zeitreisenden in persona durch die Zeit zu senden, nutzt er die viel wahrscheinlicher erscheinende Möglichkeit, im Geist längst vergangene Epochen unserer Vorfahren mit zu erleben. Das kollektive genetische Ahnengedächtnis dient ihm als Vehikel, uns seine Versionen der Vergangenheit vorzustellen und mit der Jetztzeit des Romans zu verknüpfen. Seine Figuren – sowohl die in der Jetztzeit angesiedelten, wie auch die Menschen, in die unser „Zeitreisender“ schlüpft – sind überzeugend und vielschichtig gezeichnet. Das sind dann nicht etwa Menschen wie Du und Ich, die der Autor einfach in eine fiktive Vergangenheit versetzt hat, sondern Menschen die aus ihrer uns fremden Kultur heraus, aus ihren Überzeugungen und Wissen nachvollziehbar anders handeln. Auffällig dabei aber, dass unser Erzähler immer nur in männliche Rollen schlüpft – Frauen im Roman deutlich unterrepräsentiert sind.

Etwas ungewöhnlich war zunächst die Anlage uns in seiner Rahmenhandlung von unterschiedlichen Protagonisten aus der tiefen Vergangenheit zu berichten. Hier belebt er Mythen (Atlantische Hochzivilisation) ebenso wie wissenschaftliche Erkenntnisse, füllt sie mit Schicksalen und ermöglich uns, einen fiktiven Blick in eine faszinierende Vergangenheit. Dabei sind seine Welten überzeugend ausgestaltet, bewegen sich die Figuren stimmig in diesen und ermöglichen uns so einen zwar fiktiven aber dennoch überzeugenden Einblick in die Historie.

Wil McCarthy: Zeitflut.
Heyne, März 2021.
448 Seiten, Taschenbuch, 14,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Carsten Kuhr.

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