„… Verstehen Sie mich recht: ich spreche nicht von anderen, ich spreche von mir. Ich kann nicht vergessen, oder: ich konnte nicht vergessen.“ (S. 53)
Das eigene Land, die Heimat zu verlassen, dürfte niemanden leicht fallen. Wie fühlt es sich an, fremd zu sein und wortlos, wenn die Landessprache erst noch erlernt werden will?
Richard hat dieses Fremdsein nach dem Zweiten Weltkrieg ausgekostet. War sein altes Leben auf Dauer und Beständigkeit ausgelegt, besteht es nun aus Augenblicken. Nach seiner Auswanderung nimmt der vom Krieg Entwurzelte und von der Heimat Entfremdete die Arbeiten eines Hilfsarbeiters an. Von der Hand in den Mund zu leben, ist der Takt, der ihn von einem Tag zum nächsten bringt. Er lebt im Jetzt und scheint mit seinem einsamen Los zufrieden zu sein. Eines Tages trifft er in der Bücherei Diana, die im gleichen Moment nach dem gleichen Buch greift. Es war für sie das Ersatzbuch, ihre erste Wahl hatte Richard – wie es der Zufall so wollte – kurz vorher zurückgegeben. Auf diese Weise kommen sie sich schnell näher. Ihre wunderbar klingende Stimme verzaubert ihn und macht ihn zugleich befangen. Es fehlt noch die Übung mit der fremden Sprache. Dass sie in der gleichen Straße gegenüber wohnt, ist für beide ein besonderes Zeichen, aus dem nach einer Weile gegenseitige Liebe wird. Und die Liebe hilft beiden, aus ihrem persönlichen Tiefpunkt herauszukommen. Die Frau mit der wunderbaren Stimme nimmt wieder Lyrik auf, während Richard, der fremde Deutsche, in der neuen Heimat angekommen ist. Doch aus dem Glück und dem Erfolg wächst der erste Abschied. In New York soll Dianas berufliche Karriere weitergehen.
Der Schriftsteller und ehemalige Lehrer Walter Bauer (1904 – 1976) hatte in seinem Leben viele Höhen und Tiefen. Als er nach dem Krieg in Toronto einen Neuanfang wagte, arbeitete er zunächst als Hilfsarbeiter. Fast fünfzigjährig begann er mit dem Studium für moderne Sprachen, das er 1959 mit einem Master abschloss. In seinen unterschiedlichen literarischen Werken findet sich auch ein Zyklus von Biographien. 1961 griff er sein Thema „Stimme“ aus den dreißiger Jahren wieder auf. Der Entdeckung der eigenen Stimme stellt er den Weckruf einer Frau gegenüber, die wiederum durch ihn inspiriert wird. Entstanden ist eine ganz persönliche Liebesgeschichte, die er im Monolog einem Gegenüber und zugleich dem Leser erzählt. Gekonnt vermischt er Lyrik und Prosa, um jeder ersten Bedeutung eine Tiefe mit weiteren Bedeutungen zu verleihen. Unterschiedliche Textzugänge sind möglich, wie zum Beispiel Heimat, Liebe, eine Stimme haben, eine Stimme im Leben sein.
Es gibt zum Glück Bücher, die man immer wieder lesen möchte und jedes Mal bereichern. „Die Stimme“ ist eines dieser Bücher.
Walter Bauer: Die Stimme (1961).
Lilienfeld Verlag, Oktober 2014.
128 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.