Victor Schefé: Zwei, drei blaue Augen

Wer wissen will, wie sich das Leben für Andersdenkende in der DDR anfühlte, der sollte Victor Schefés autobiografischen Debütroman Zwei, drei blaue Augen lesen. Dem Autor gelingt es, das Klima aus Misstrauen, Anpassungsdruck und verdeckter Rebellion mit einer Eindringlichkeit zu vermitteln, die selten so unmittelbar spürbar wird. Die Schikanen, denen sich Systemkritiker und Ausreisewillige in der DDR ausgesetzt sahen, beschreibt er nicht abstrakt oder analytisch, sondern in der ganzen körperlichen und seelischen Wucht des Erlebten. In Briefen, Tagebucheinträgen, Stasi-Protokollen und Erinnerungsfragmenten entfaltet sich das Panorama einer Jugend, die von Kontrolle, Enge und Angst geprägt ist – und zugleich von Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung. Das Ringen um ein eigenständiges Leben treibt den Erzähler bis an den Rand der Verzweiflung, manches Mal sogar zu Suizidgedanken.

Zentrales Spannungsfeld ist das Verhältnis des Erzählers zu seiner Mutter, einer überzeugten DDR-Radiojournalistin, die aufseiten des Systems steht und den rebellischen Sohn nicht mehr erreicht. Schefé beschreibt diesen Konflikt ohne Abrechnung, aber mit schonungsloser Ehrlichkeit.

Neben der politischen Unterdrückung steht auch die persönliche Identitätssuche im Fokus. Schefés Homosexualität, seine Leidenschaft für Leichtathletik und sein Faible für die Musik der 1980er-Jahre verleihen der Geschichte eine emotionale Tiefe und Verankerung in der Popkultur jener Zeit. Das Lebensgefühl einer Generation zwischen Plattenbau und Westfernsehen wird in kleinen Details lebendig.

Immer wieder durchziehen Songtexte den Roman. Manchmal wirken diese musikalischen Verweise etwas überladen, doch sie tragen zur Atmosphäre bei und zeigen, wie sehr Musik in jener Zeit auch ein Rückzugsort war – ein Ventil für alles, was nicht gesagt werden durfte.

Schefé schreibt in einem Stil, der zwischen dokumentarischer Genauigkeit und poetischer Verdichtung pendelt. Er erzählt schnell, fast atemlos, und erzeugt damit jene innere Unruhe, die sein Protagonist selbst spürt. Dieser Rhythmus zieht den Leser hinein in die Mechanik der Kontrolle und Ohnmacht, bis man das Gefühl bekommt, die Luft in einem stickigen Verhörzimmer mitzuatmen.

„Zwei, drei blaue Augen“ ist ein intensives Buch, in dem private und politische Geschichte untrennbar ineinandergreifen. Es ist zugleich eine Coming-of-Age-Erzählung, ein DDR-Zeitzeugnis und ein verspätetes Selbstgespräch mit dem früheren Ich. Ein Roman, der nichts glättet und gerade dadurch berührt.

Victor Schefé, Jahrgang 1967, ist heute Musiker und Schauspieler und hat unter anderem im James-Bond-Film Spectre an der Seite von Daniel Craig mitgewirkt.

Victor Schefé: Zwei, drei blaue Augen
dtv, Oktober 2025
472 Seiten, gebundene Ausgabe, 24 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.

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