„Kindheit“ ist der erste Teil der autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie. Die Ich-Erzählerin Tove ist genau ein Jahr später geboren als die Autorin Tove Ditlevsen. Sie wirkt authentisch, verlässlich, doch es bleibt den Leserinnen überlassen zu ergründen, was wahrhaft erinnert ist und was Fiktion.
Tove wächst in den 1920er Jahren in einem Arbeiterviertel in Kopenhagen auf, in einer Gegend, wo Männer in den Höfen trinken und Mädchen viel zu früh schwanger werden. Die Verhältnisse der Familie sind äußerst bescheiden und verschlechtern sich noch, als der Vater die Arbeit als Heizer verliert. Die Mutter ist unnahbar und unzufrieden mit ihrem Leben. Tove versteht die Mutter nicht und setzt doch alles daran, eine noch so kleine liebevolle Geste zu erhaschen. An schlechten Tagen macht sich Tove am besten unsichtbar, um nur nicht den Zorn der Mutter auf sich zu ziehen. Überhaupt ist Tove schon als Kind eine Meisterin der Täuschung. Niemand soll von dem Gesang in ihrem Inneren erfahren, wenn sie schöne Worte hört, von den Gedichten, die sie heimlich in ihr Poesiealbum schreibt. Deshalb stellt sie sich dumm. Sie fühlt sich auch oft dumm, denn sie weiß nicht, wie man spielt. Mit anderen Kindern kann sie wenig anfangen, bis sie Ruth kennenlernt.
Worte, Gedichte sind Toves Schutzschild, sie stellt sie zwischen sich und die Wirklichkeit. Sie will Dichter werden. Ein Mädchen kann nicht Dichter werden, sagt der Vater, Mutter und Bruder lachen. Dabei ist der Vater derjenige, der Bücher liest und so etwas wie Verständnis für Tove hat. Es ist eine Art Naturgesetz, dass Jungen etwas lernen dürfen und Mädchen heiraten sollen, am besten einen Handwerker, was für Tove gesellschaftlichen Aufstieg bedeuten würde. Sie hält trotzdem an ihrem Traum fest. Später wird sie es schaffen. Einstweilen muss sie die Kindheit ertragen. „Verstohlen beobachten wir die Erwachsenen. […] Man sieht ihnen nicht an, dass sie eine Kindheit hatten, und man wagt nicht zu fragen, wie sie es geschafft haben, sie hinter sich zu bringen, ohne tiefe Narben oder andere Male davonzutragen.“ (Zitat Kap. 6)
Tove Ditlevsen schrieb „Kindheit“ 1967, nun ist das Werk erstmals in Deutsche übersetzt worden. In klarer Sprache und schmerzhaft nahe am Kind Tove erzählt sie, wie es ist, ausgegrenzt zu sein und sich gleichzeitig abgrenzen zu wollen, von Sorgen und Zwängen, die universell und zeitlos sind. Für mich ist das Buch eine wundervolle Entdeckung.
Das Buch endet mit Toves Konfirmation. „Vorbei ist […] die Kindheit. Jetzt fallen die letzten Reste von mir ab wie Schuppen von sonnenverbrannter Haut, und darunter kommt eine falsche, unmögliche Erwachsene zum Vorschein.“ (Zitat Kap. 18) Auf die weiteren Bände der Trilogie „Jugend“ und „Abhängigkeit“ darf man gespannt sein.
Tove Ditlevsen: Kindheit.
Aufbau Verlag, Januar 2021.
118 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.
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